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First Man – Kritik

Wie fühlt sich eine Grenzüberschreitung an? In seinem Neil Armstrong-Biopic First Man findet Regisseur Damien Chazelle auf diese Frage gleich mehrere Antworten, vorzugsweise zusammengestellt in den vibrierenden Bildern eines Testflugs, der den Protagonisten der Geschichte Richtung Weltraum katapultiert. In seiner X-15 sitzt der von Ryan Gosling verkörperte Pilot, der später als erster Mensch auf dem Mond seinen Fußabdruck hinterlassen sollte. „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit“, steht inzwischen in den Geschichtsbüchern geschrieben. Der Weg zu dieser ultimativen Grenzüberschreitung gestaltet sich jedoch als ein gefährlicher wie beschwerlicher, so unkontrollierbar wird das Fluggerät in den Himmel geschleudert. Es klappert und flackert im Cockpit, sodass die Kamera kein einziges klares Bild findet, während Neil Armstrong hektisch die unzähligen Knöpfe und Hebel in Bewegung setzt, um die Maschine zu stabilisieren. Nur für den Bruchteil einer Sekunde offenbart sie sich, die ungeahnte Stille, Schönheit und Unendlichkeit der Grenzüberschreitung, bevor der Sturzflug ein weiteres Inferno aus polternden Geräuschen, heulenden Winden und aufleuchtenden Warnsignalen beschwört.

Nach der verträumten Eleganz seines Hollywood-Märchens La La Land wählt Damien Chazelle den denkbar konträrsten Einstieg in seinen neuen Film, der ihn nicht nur mit Hauptdarsteller Ryan Gosling wieder zusammenführt, sondern auch mit seiner altbekannten Crew hinter der Kamera. Da wäre etwa Komponist Justin Hurwitz, der sich von den verspielten Tönen des Musicals verabschiedet und mit einem nervenaufreibenden Score auftrumpft, der uns Zuschauer gleichermaßen vor Ehrfurcht zittern lässt und einen Zugang in die verborgene Gefühlswelt der Figuren ermöglicht, von einem sich in aufbrausender Bewegung wiederholendem Motiv ganz zu schweigen. Inspiriert von der hypnotisierenden Sogkraft, wie sie beispielsweise Mauricel Ravels Boléro entwickelt, untermalt Hurwitz den Aufbruch zum Mond mit einer musikalischen Geste, die sich ähnlich zunehmend steigert, bis die Landefähre die graue Oberfläche des Monds berührt. Neben dem zwischenmenschlichen Drama und entgegen des weitläufig bekannten Ausgangs der Geschichte entpuppt sich First Man dabei vor allem als Spannungskino, das die Ungewissheit dieser alles verändernden Mission erfahrbar macht. Eine Ungewissheit, die ebenfalls vom Schnitt und der Kamera transportiert werden.

Kameramann Linus Sandgren und Editor Tom Cross verwandeln First Man in eine Reihe fesselnder, intensiver Eindrücke, die durch Neil Armstrongs Leben führt und seinen Schmerz in unruhigen Bildern regelmäßig durchblitzen lässt. Diese Unruhe spiegelt sich ebenfalls in Josh Singers Drehbuch wieder, der bisher zwar keine Berührungspunkte mit Damien Chazelle hatte, dafür mit Spotlight und The Post zwei fraglos großartige Werke zu verantworten hat. Diese balancierten bewundernswert auf dem schmalen Grat eines Films, der einerseits wahre Begebenheiten verhandelt, sich andererseits neben dem historischen Moment aber auch für die Individuen interessiert, die unmittelbar für diesen verantwortlich beziehungsweise von diesem betroffen waren. Die gleichnamige Biographie von James R. Hansen dient Singer nun als Vorlage, um Neil Armstrong auf der großen Leinwand auf den Mond zu schicken. Gerade im Hinblick auf seine vorherigen Arbeiten fehlt ihm dieses Mal jedoch der präzise Durchblick, was gleichzeitig das vorherrschende Chaos der Bilder spiegelt. First Man findet sich in einem Konflikt zwischen Geschichtsepos und den intimen Erlebnissen eines Mannes wieder, der am liebsten stumm in die Nacht starrt.

Ein geradezu unheimlicher Ruhepol ist Ryan Goslings Neil Armstrong in diesem Film, der von seinen Figuren alles fordert, um das Unmögliche zu erreichen. Den Held sucht man in diesem Biopic vergebens. Stattdessen finden sich hier überwiegend Schmerz und Trauer in einer behutsamen Meditation über das Gewicht von Entscheidungen und die Unfähigkeit, darüber zu reden. Jeder vorwurfsvolle Blick von Janet Armstrong (Claire Foy) adressiert die Stille, die in der Eröffnungssequenz noch einer Erlösung gleichkam, im nachfolgenden Film jedoch zur Bürde, zur Qual mutiert. Selbst Damien Chazelle gelingt es nicht, ins Innere seines Protagonisten vorzudringen. Stattdessen begreift er First Man als Chance zur Annäherung und gleitet aufmerksam durch die sorgfältig nachkonstruierten 1960er Jahre. Während in seiner Inszenierung immer wieder Verweise Richtung Philip Kaufmans The Right Stuff, Ron Howards Apollo 13 und natürlich 2001: A Space Odyssey von Stanley Kubrick auftauchen, entdeckt Chazelle bei diesen Annäherungsversuchen eine Erzählform, die an die assoziativen Bilderreigen von Terrence Malick erinnern, insbesondere The Tree of Life. Diese Augenblicke eröffnen First Man eine völlig neue, unerwartete Dimension.

An diesem Punkt findet in First Man jene Grenzüberschreitung statt, die sich schlussendlich als kathartischer Akt für Neil Armstrong und Damien Chazelles Film offenbart. Mit all seinem inszenatorischen Können beschwört Chazelle im Finale noch einmal die beklemmende Atmosphäre der mitreißenden Eröffnungssequenz und traut sich ein gewaltiges Stück weiter von der Erde weg. Jedes Geräusch, jede Erschütterung und jeder Lichtblitz sind auf einmal wahrnehmbar, ehe sie in einem Strom aus Eindrücken verschwimmen. Schatten, Umrisse und nur wenige Konturen liefern uns Orientierung bei diesem Flug zum Mond, der schließlich mit einer der atemberaubendsten Kamerabewegungen des Kinojahres die komplette Größe der IMAX-Leinwand für sich beansprucht, um von einem Schritt zu erzählen, in dem sich all die zuvor angestauten Emotionen entladen. Damien Chazelle bringt diese Gefühle bis auf die Erde zurück, wo er schließlich ganz bei seinen Figuren ist, die sich zuvor schweigend aus dem Weg gegangen sind. Nun sitzen sie – immer noch schweigend – in getrennten Räumen. Eine Berührung erfolgt trotzdem. Denn die wahre Grenzüberschreitung findet weder auf dem Mond noch mit der gesamten Welt als Publikum statt.

First Man © Universal Pictures