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Roma – Kritik

Alfonso Cuaróns erster mexikanischer Film seit dem 2001 erschienen Y Tu Mamá También beginnt mit dem wohl schlichtesten Bild seiner gesamten Karriere. Nachdem er den berühmtesten Zauberer der Welt bei seinem dritten Schuljahr begleitete, das Ende der Welt ohne Kinder bezeugte und die bedrohliche Schönheit des Weltalls dokumentierte, fokussiert sich seine Kamera in den ersten Minuten von Roma ausschließlich auf die Fließen eines Hofes. Während im Hintergrund das alltägliche Treiben in Mexiko-Stadt – genauer gesagt dem Stadtteil Roma – zu vernehmen ist, erschüttert eine Wasserwelle die friedliche Stille dieser einleitenden Aufnahme. Die Welle breitet sich nach und nach in der schwarz-weißen Pracht des Bildes aus und offenbart ein Fenster mit Blick in den Himmel. In der Spiegelung des Wassers öffnet sich somit eine völlig neue Welt, eine unendliche Welt, in der Flugzeuge über alle Grenzen hinwegfliegen.

Ein unerwarteter Einstieg für einen Alfonso Cuarón-Film, immerhin war es zuletzt Kameramann Emmanuel Lubezki, der die Werke des mexikanischen Filmemachers stets in einen atemberaubenden Reigen aus bewegten Bildern verwandelte. Nun hat Cuarón neben seinen anderen Aufgaben als Regisseur, Drehbuchautor, Editor und Produzent auch die Kamera übernommen, um die persönliche Erinnerung Roma zum Leben zu erwecken. Angesiedelt in den 1970er Jahren verarbeitet er anhand der Geschichte des Kindermädchens Cleo (Yalitza Aparicio) eigene Kindheitserfahrungen, die sich im intimen Rahmen einer Familie abspielen, jedoch ebenso Bezug auf historische Ereignisse wie etwa das „Corpus Christi“-Massaker im Jahr 1971 nehmen, bei dem ein Studentenprotest von einer paramilitärischen Gruppe gewaltsam niedergeschlagen wurde.

Das Leid vermischt sich in Roma oft mit einer eleganten Inszenierung, die den Schrecken auf keinen Fall ignoriert, zwischen dem Chaos aber ebenfalls Momente von Geborgenheit ausfindig macht. Diese trotzen den niederschmetternden Umständen. In jedem Bild von Alfonso Cuarón versteckt sich eine kleine Welt, die darauf wartet, entdeckt zu werden. Die Tiefe des filmischen Raums nimmt bei ihm unglaubliche Dimensionen an, so viele Dinge passieren gleichzeitig in einer Szene. Solch ein Film bedarf wahrlich der größten Kinoleinwand, um angemessen bestaunt zu werden. Besonders faszinierend sind die kinematischen Kontraste, die Cuarón wie ein Maler des Kinos einfängt, dem wir bei der Kreation seiner Kunst unmittelbar über die Schulter schauen dürfen. Schwebend gleitet er mit der Kamera durch das sonnige Roma und weiß den verblüffenden Effekt dieser Bewegungen perfekt auszukosten.

Wenngleich Roma mit einem ruhigen, besonnenen Erzähltempo aufwartet, findet die Bewegung auf vielen verschiedenen Ebenen statt. Da wären etwa die Kinder, die über den Gehweg rennen, während die Kamera ein paar Meter versetzt die Straße entlang rollt. Oder ein mächtiges Auto, das mehr einem unbesiegbaren Schiff gleicht und trotzdem in der Sackgasse der Realität stecken bleibt. Aufmerksame Beobachtungen überfluten Alfonso Cuaróns autobiografisch angehauchte Liebeserklärung, vor allem dann, wenn das Kino selbst zum Spielort des Dramas avanciert und sich unzählige Geschichten in einer Einstellung überschlagen. Im Unscheinbaren findet Cuarón die wertvollsten Informationen über seine Figuren, die immer wieder auseinanderdriften, wie sie kurz darauf wieder zusammenwachsen. In Roma existieren viele ungeklärte Verhältnisse, als wären sie unter den eingangs erwähnten Wellen verborgen, sodass wir nur verschwommen ihre Umrisse erkennen.

Da Roma aber nicht nur ein liebevolles Schwelgen in Erinnerungen, sondern auch eine Reflexion selbiger ist, verändern sich die Beziehungen und Verhältnisse im Film, wie auch das Wasser eine neue Rolle einnimmt. Wurde anfangs nur der Hof gereinigt, gilt es später, ein sich rasant ausweitendes Feuer zu löschen, dessen Flammen drohen, die friedliche Natur zu vernichten. Ebenso tritt das Wasser als zerstörerische Kraft auf, sogar als Gegenbewegung in einer der wohl mitreißendsten Szenen des Films, wenn sich Cleo selbstlos ins Meer stürzt, um die Kinder zu retten, die nicht ihre eigenen sind. Die ganze Welt hat sich gegen sie verbündet, peitscht ihr sprichwörtlich ins Gesicht. Doch Cuaróns Kamera folgt ihr beständig auf ihrem Weg in das unbarmherzige Rauschen, das im Bruchteil einer Sekunde alles Leben verschlucken kann, ohne dass es je wieder gefunden wird. Eine Erfahrung, die zusammenschweißt, wie keine andere.

Wenn Alfonso Cuarón am Ende von Roma erneut in den Himmel blickt, dann erfolgt diese befreiende, hoffnungsvolle Bewegung nicht mehr über den Umweg der Spiegelung in einer Pfütze. Stattdessen richtet er seine Kamera direkt ins bedingungslos strahlende Firmament, während ein Flugzeug von der zahllosen Möglichkeiten dieses Ausblicks kündet. Die minimale Variation des vertrauten Motivs bringt Roma zum Beben – allerdings nicht in Form einer gewaltigen Geste, sondern einer heimlichen, stillen Explosion von Freiheit und Unendlichkeit. Roma umarmt sein Publikum förmlich, wenn Alfonso Cuarón seinen Film genauso poetisch ausklingen lässt, wie er ihn begonnen hat. Alles, was dazwischen passiert ist, zeugt von der puren Magie des Kinos, die sich in einer beruhigenden Gelassenheit und Neugier auf der Leinwand ausbreitet. Cuarón hat die Schwerelosigkeit vom Weltraum auf die Erde gebracht.

Roma © Netflix