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Visages Villages – Kritik

Was macht eigentlich die Grand-mère de la Nouvelle Vague? Mit 98 Jahren kann Agnès Varda auf eine bemerkenswerte Karriere als Filmemacherin zurückblicken, ohne dem Druck ausgesetzt zu sein, noch einmal das Kino revolutionieren zu müssen. Agnès Varda muss niemandem mehr etwas beweisen und dennoch – oder genau deswegen – strotzt ihr jüngstes Werk geradezu vor übersprudelnder Entdeckungsfreude. Gemeinsam mit dem Fotografen und Streetart-Künstler JR macht sie sich in Visages Villages, der hierzulande den Titel Augenblicke: Gesichter einer Reise erhalten hat, auf den Weg durch die ländlichen Regionen Frankreichs und entdeckt nicht nur unerwartete Orte für sich, sondern ebenfalls die Menschen, die diese bevölkern und mit ihrer Geschichte zum Leben erwecken.

Im vergangenen Jahr feierte die außergewöhnliche Kollaboration im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes ihre Premiere und hat seitdem einen inspirierenden Siegeszug angetreten, der sich von einer Nominierung als bester Dokumentarfilm bis hin zur lebhaften Präsenz in sozialen Netzwerken erstreckt. Plötzlich sind die hinreißenden Aufnahmen von Agnès Varda und JR überall im Internet präsent, bevor ihre Reise überhaupt den Weg auf die große Leinwand gefunden hat. Doch ihr Vorhaben ist nicht mehr zu stoppen. Die Begeisterung steckt an und weckt Neugier, bis wir schließlich selbst Zeugen der Bilder werden, die Agnès Varda und JR von den Menschen, denen die begegnen, überlebensgroß auf die Wände deren Heime kleistern.

Riesige Porträts ragen plötzlich in den Himmel und schaffen ein neues Bewusstsein für das Leben, das in Vergessenheit zu geraten droht. Agnès Varda und JR treten den Menschen mit aufrichtigem Interesse gegenüber und hören ihren Geschichte zu, sodass ihre Erinnerungen nicht länger  verborgen in der Vergangenheit verstecken müssen, sondern in der Gegenwart ihren größten Wert entfalten. Visages Villages nähert sich mit viel Feingefühl intimen Themen an und vergisst dabei auch die persönlichen Ängste und Sehnsüchte der Initiatoren des Projekts nicht. Die Freundschaft zwischen Agnès Varda und JR befindet sich noch in der Entstehung und das gegenseitige Vertrauen muss aller Offenheit zum Trotz erst erst wachsen.

Als spontane wie liebenswerte Unternehmung offenbart sich Visages Villages aber vor allem als verblüffende Zusammenstellung vieler kleiner Porträts, die episodisch aufeinandertreffen und manchmal gänzlich unvorbereitet im Hintergrund entstehen. Visages Villages ist ein Film, dem der vage Traum von einer Zukunft zu lange dauert. Stattdessen werden verrückte Pläne und Ideen sofort in die Tat umgesetzt – ein Ehrgeiz, der inspiriert und kaum abgelehnt wird, was sicherlich nicht selbstverständlich ist. Fast alle Menschen lassen sich auf Agnès Varda und JRs umangekündigte Besuche ein, wodurch Visages Villages besonders im Moment der Überraschung berührt. Nur Jean-Luc Godard will nicht vor die Tür treten und erweist sich als Geist heimlicher Bösewicht dieser Reise, der trotzdem Eindruck hinterlassen hat.

Doch selbst dieser böse Geist, der für Enttäuschung und Tränen verantwortlich ist, vermag den lebensbejahenden Geist dieser Reise nicht trüben, genauso wie der drohende Verlust des Augenlichts, der Visages Villages immer wieder in die Richtung einer Abschiedsvorstellung rückt. Wenn Agnès Varda aber von JR in seinem Rollstuhl durch die Gänge des Louvre geschoben wird, vereinen sich wunderbar die vielen Facetten dieses Films, der den Dingen lieber direkt ins Auge blickt, anstelle sich vor ihnen zu verstecken. Da darf auch nochmal die Nouvelle Vague in ihrer beneidenswerten Ausgelassenheit aufleben – was für eine entzückende Hommage, was für ein packender Augenblicke, der dem Kino für immer bleiben wird.

Visages Villages © Weltkino Filmverleih