Als Peter Jackson vor vier Jahren den ersten Teil seiner Hobbit-Trilogie in 48 fps (frames per second) präsentierte, war die Begeisterung alles andere als überschwänglich. Auch die zwei darauffolgenden Sequels vermochten es nicht, der doppelten Bildfrequenz (üblich sind 24 Bilder pro Sekunde) ihre Existenzberechtigung auf der großen Leinwand zu verleihen. Kaum eine Zeile wurde zum Abschluss der zweiten Mittelerde-Odyssee über die unkonventionelle Präsentationsform verloren, als wollte Warner Bros. schweigend die Ambition eines Regisseurs vergraben, der seit Anbeginn seiner Karriere daran interessiert ist, die Grenzen des Kinos auszuloten. Anno 2016 wagt sich allerdings niemand Geringeres als Ang Lee an Peter Jacksons Erbe, nachdem er zuletzt einen der bis dato besten 3D-Filme abgeliefert hat.
Auf den sagenhaften Life of Pi folgt Billy Lynn’s Long Halftime Walk. Mit 3D, 4K und 120 fps (!) näherte sich der US-amerikanisch-taiwanesische Regisseur Ben Fountains gleichnamiger Literaturvorlage an und musste den Preis mit einer herben Niederlage im Entstehungsland seiner Kreation einstecken, die zur Folge hat, dass wir Billy Lynn’s Long Halftilme Walk hierzulande wohl niemals in der Version seines Schöpfers sehen werden. Zurückschrecken sollte trotzdem niemand von diesem unfassbar wichtigen wie herausragenden Film: Wenngleich die durchdringende Schärfe, die reibungslosen Bewegungsabläufe und das stechende Gefühl klarer Bilder in seinem unermesslichen sowie ursprünglich vorgesehenen Ausmaß nur zur erahnen ist, erzählt Ang Lee vom verborgenen Trauma einer Generation, das niemals vergessen werden sollte.
Der titelgebende Protagonist der Geschichte, Billy Lynn (Joe Alwyn), ist keine 20 Jahre alt, da kämpft er bereits für sein Vaterland im Irakkrieg und riskiert sein eigenes Leben, um einem Kameraden, der ebenfalls sein Vorgesetzten ist, das Leben zu retten. Mutig stürzt er sich ins Gefecht und wird dabei zufällig von einer Handykamera erfasst, die sein Handeln inklusive heroischer Pose dokumentiert. Kaum erreichen diese Bilder die Heimat, keimt Hoffnung und Selbstvertrauen in Zeiten von absoluter Unsicherheit aus. Die eigenen Jungs bringen die Sicherheit in einem Konflikt zurück, bei dem keiner mehr weiß, um was es eigentlich geht. Die Propaganda greift und ehe sich Billy und die übrigen Soldaten seiner Kompanie versehen, befinden sie sich auf einer Siegestour durch Texas, ehe die Rückkehr an den Ort des Schreckens bevorsteht.
Nicht lange soll es aber dauern, bis große Unklarheit hinsichtlich des eigentlichen Kriegsschauplatzes herrscht. Sind es die Feuergefechte in der staubigen Wüste oder die Glanzparaden im vertrauten At&T-Stadium der Dallas Cowboys? Jean-Christophe Castelli liefert in seinem Script genügend Möglichkeiten, um Billys Erlebnisse ineinander übergehen, gar gänzlich verschwimmen zu lassen – und Ang Lee erweist sich einmal mehr als visionärer Regisseur mit dem notwendigen Blick fürs Wesentliche, der gleichermaßen elegant wie präzise zum Kern des Problem vordringt. Mit unheimlicher Ruhe, Geduld und Aufmerksamkeit offenbart Billy Lynn’s Long Halftime Walk Einblick in eine düstere Ecke, die von Außenstehenden krampfhaft umgangen werden. Es gilt bloß eine Illusion aufrechtzuerhalten. Zum Feiern gibt es jedoch kaum etwas, nicht einmal in der Halbzeitpause beim Football.
Billy und seine Kollegen werden ununterbrochen nach ihren Erfahrungen gefragt, obgleich keiner der Fragenden eine ernsthafte Antwort hören will. Stattdessen handelt es sich beim kolportierten Interesse lediglich um eine Übergangshandlung, um den Klaps auf die Schulter vorzubereiten, ehe weitere Worte des Stolzes ausgesprochen werden. Leere Hülsen in einer abartigen Farce: Irgendwann platzt es aus Billy heraus, allerdings nicht zornig, sondern irritiert. Warum er ausgerechnet für den schlimmsten Tag seines Lebens geehrt wird, will er wissen. Denn trotz aller Courage, die er im Irak aufgebracht hat, konnte er das Unvermeidliche nicht verhindern. Behutsam bewegt sich Ang Lee auf diesen Teilmoment zur, der nicht in der eingangs beschrieben Videoaufnahmen zu sehen war, jedoch ein entscheidender Baustein ist, um Billys Gefühle und Gedanken zu entschlüsseln.
Als wichtige Begleiter auf diesem Weg entpuppen sich Kameramann John Toll und Cutter Tim Squyres. Sowohl die Bilder als auch ihre Aneinanderreihung erfolgt ganz im Streben des Erzählens. Ang Lee will sich aller technischen Möglichkeiten zum Trotz nicht ablenken lassen, sondern verblüfft mit einer unermüdlich aufmerksamen wie aufrichtigen Haltung gegenüber seiner Figuren sowie der angesprochenen Themen. Bereits in Life of Pi war der Fokus stets auf die Narration und deren vielseitige Lesearten gerichtet. Bei Billy Lynn’s Long Halftime Walk ist das nicht anders. Konzentriert dringt Ang Lee unter die Oberfläche, meist im Dialog, denn sobald die Menschen in seinem Film das Reden anfangen, geben sie mehr über sich selbst sowie die Zustände, die ihnen zu schaffen machen, preis, als sie zugeben möchten. Eine Meditation im Wort, die vor allem niemals eines wird: zynisch.
Entgegen aller satirischen Elemente, die verborgen im Herzen von Billy Lynn’s Long Halftime Walk schlummern, lässt sich Ang Lee zu keinem Zeitpunkt auf das Niveau bloßstellender Gesten herab. Selbst wenn sich eine naive Liebesgeschichte als zerreißende Enttäuschung herausstellt, bleibt das ironische, überhebliche Zwinkern aus. In aller Künstlichkeit des Spektakels interessiert sich Ang Lee nur für das Menschliche, das sich durch unbeschreibliche Abgründe quält, aber nie am friedlichen Ort aller Sehnsüchte gelangt: der Heimat. Zwischen Feuerwerken und Destiny’s Child befindet sich diese sicherlich nicht, im staubigen Schützengraben unter Beschuss allerdings auch nicht. Selbst zum Schluss offeriert Ang Lee keine eindeutige Antwort auf diese Frage nach diesem Ort der Geborgenheit – und das macht Billy Lynn’s Long Halftime Walk so wertvoll. Schon lange war der Diskurs in einem Drama dieses Kalibers dermaßen vielschichtig und berührend wie zur Halbzeitpause dieser universellen Odyssee.
Billy Lynn’s Long Halftime Walk © Sony Pictures
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