Eine Erinnerung festhalten – das hat Sophy Romvari schon mehrmals versucht. Am beeindruckendsten ist es ihr in Still Processing gelungen. Der sehr persönliche Kurzfilm feierte 2020 in Toronto seine Premiere und öffnete durch eine Schachtel mit Familienfotos das Tor in die Vergangenheit. Fünf Jahre später meldet sich die kanadische Filmemacherin mit ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm zurück, der sich wie ein geistiger Nachfolger der vorherigen Entdeckungsreise zwischen Dunkelkammer und Fotolupe anfühlt: Blue Heron.
Erneut hat sich Romvari, deren Familie ursprünglich aus Ungarn stammt, von ihrer eigenen Geschichte inspirieren lassen. Blue Heron, der dieses Jahr in Locarno als bestes Debüt ausgezeichnet wurde, erzählt von einer sechsköpfigen Familie, die in den 1990er Jahren von Ungarn nach Vancouver Island auswandert und sich dort ein neues Leben aufbaut. Mutter (Iringó Réti), Vater (Ádám Tompa), drei Söhne und eine Tochter, Sasha (Eylul Guven), durch deren Augen wir – vorsichtig beobachtend – einen Großteil dieser Welt kennenlernen.
Mit Henry (Liam Serg) und Felix (Preston Drabble), ihren etwa gleichaltrigen Brüdern, befindet sich Sasha auf einer Wellenlänge. Anders sieht es bei Jeremy (Edik Beddoes) aus, dem ältesten Bruder, der aus der vorherigen Beziehung ihrer Mutter stammt und durch Stimmungsschwankungen auffällt. Schnell wird klar, dass sich dahinter mehr verbirgt – eine psychische Krankheit, die niemand so recht zu benennen vermag. Mehr und mehr wird Jeremys rätselhaftes Verhalten zum Mittelpunkt einer Rekonstruktion des Vergangenen.
Blue Heron fühlt sich an wie ein Film, der neugierig, aufmerksam, aber auch schüchtern und distanziert durch den Türschlitz blickt, dorthin, wo die Erwachsenen über Dinge reden, deren wahre Bedeutung man nur erahnen kann. Trotzdem besteht kein Zweifel: Irgendetwas ist aus dem Gleichgewicht geraten. Unruhe. Vertraute Stimmen und Wortfetzen dringen von dem Raum auf der anderen Seite herüber. Das Erspähen einer Reflexion auf der Fensterscheibe, die Silhouette vor dem gedimmten Licht einer Lampe – alles Teile eines Mosaiks.
In sorgfältig gewählten Close-ups rückt Romvari hyperspezifische Details in den Vordergrund, wie man sie nur als Kind wahrnimmt und mit besonderer Bedeutung auflädt, obwohl sie im großen Ganzen keine Relevanz haben. Genau aus diesen unscheinbaren Beobachtungen – wundervoll gefilmt von Maya Bankovic und im Schnitt feinfühlig zusammengeführt von Kurt Walker – entsteht jedoch ein zunehmend komplexes Erzählgeflecht, das mit dem Erinnern und vor allem den filmischen Möglichkeiten des Erinnerns ringt.
Obwohl Blue Heron Sophy Romvaris Spielfilmdebüt markiert, wird in jeder Einstellung deutlich, wie intensiv sie bereits in ihren Kurzfilmen über das Zusammenspiel von Bildern und Zeit nachgedacht hat. Das Bild ist ihr unmittelbarster Zugang zur Erinnerung und findet in unterschiedlicher Form seinen Weg in den Film – von Fotografien, die im hauseigenen Labor entwickelt werden, bis zu Camcorder-Aufnahmen, die uns die zuvor erlesenen Einstellungen aus verpixelter Perspektive zeigen und neu kontextualisieren.
Blue Heron steht in einer Tradition mit sehr in sich gekehrten Filmen wie dem vor drei Jahren erschienenen Aftersun, in dem Charlotte Wells zwischen digital gespeicherten Momenten und körnigen 35-mm-Bildern behutsam eine Vater-Tochter-Beziehung erkundet. Oder Steven Spielberg, der in The Fabelmans sein junges Alter Ego die eigene Familiengeschichte mit einer Super-8-Kamera framen lässt. Oder Alfonso Cuarón, der in Roma das Haus seiner Kindheit im schwarz-weißen Gewand zum Leben erweckt.
Auf den ersten Blick geht es um das Nachstellen von Erinnerung auf audiovisueller Ebene. Keine der Farben scheint zufällig ihren Weg in Blue Heron gefunden zu haben, vor allem die warmen Grüntöne eines Sommers im schattenreichen Garten hinter dem Haus. Wasser, das aus einem Schlauch läuft, spielende Kinder und Vogelgezwitscher. Während sich im Hintergrund eine entspannte Geräuschkulisse entfaltet, begibt sich die Kamera immer wieder auf Sashas Augenhöhe, womit wir uns stets ein Stück tiefer als gewohnt befinden.
Genauso wie Wells, Spielberg und Co. will Romvari das Nachgestellte nicht rahmen und sicher hinter Glas verwahren. Ihr fragmentarischer Coming-of-Age-Film, der ebenfalls der dokumentarischen Form sehr verbunden ist, wagt sich tiefer in den Prozess des Erinnerns, in den Prozess des Filmemachens. Sie fragt, woher die Bilder kommen, wie sie entstehen und wer sie aneinanderreiht – vom analogen Entwickeln in der Dunkelkammer bis zum digitalen Schnittprogramm, in dem per Mausklick vor- und zurückgespult werden kann.
Ihre mutigste Entscheidung trifft Romvari in der zweiten Hälfte des Films, wenn sie Sashas Figur erweitert und Blue Heron in seiner Gesamtheit als digitale Timeline begreift, auf der sie sich überall gleichzeitig bewegen kann – George Lucas wäre begeistert. Plötzlich überlagern sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Dialog, mit dem Sasha Antworten auf Jeremys Verhalten sucht. Antworten auf eine Wut, die sich über Jahre in ihr angestaut hat, und eine Erinnerung, der sie jetzt nicht mehr vertrauen kann.
Mit jedem Bild verschiebt sich die Vergangenheit ein weiteres Stück, sodass die Erinnerung niemals mit der erhofften, bestimmenden Endgültigkeit festgehalten werden kann. Vielmehr transportiert Blue Heron durch eine Sammlung verschwommener – und wunderschön gefilmter – Eindrücke ein vages Gefühl, das Sashas stillen Schmerz in etwas Spürbares und dadurch etwas Nachvollziehbares verwandelt. Selbst die aufrichtigste Erinnerung kann trügerisch sein: eine Annäherung durch radikale Verletzlichkeit.
Beitragsbild: Blue Heron © Nine Behind Productions