Wenn vom Marvel Cinematic Universe die Rede ist, dauert es für gewöhnlich nicht lange, bis der sogenannte House Style zur Sprache kommt. Gemeint ist eine Art Formel, die sich auf sämtliche MCU-Segmente anwenden lässt. Eine einheitliche Bildsprache gehört dabei genauso zu den wiedererkennbaren Merkmalen wie der lockerer Humor, der trotz düsterer Aspekte in der Handlung die Familienfreundlichkeit der entsprechenden Superhelden-Blockbuster gewährt. Auf den ersten Blick dürfte es folglich nicht verwundern, dass sich die Filme mittlerweile nur noch wie ein maßgeschneidertes Produkt anfühlen, die niemanden wehtun und auf keinen Fall etwas am Status quo verändern – das wäre geradezu rabiat!
Beschäftigt man sich jedoch etwas genauer mit den einzelnen Vertretern, so blitzten durchaus Eigenheiten heraus, die jedem Franchise-Eintrag eine eigene DNA im großen MCU-Gefüge verschaffen. Während sich Guardians of the Galaxy etwa ins Metier der Weltraummärchen wagte, probierte sich Ant-Man als Heist-Movie und Captain America: The Winter Soldier verstand sich als moderne Interpretation des Paranoiakinos der 1970er Jahre. Auch Doctor Strange, der neuste Beitrag im MCU, lässt sich einem solchen thematischen Überbau unterordnen. The Matrix und Inception heißen die Vorbilder des knallbunten Abenteuers mit Benedict Cumberbatch in der titelgebenden Hauptrolle.
Doctor Strange ist eine Origin-Story. In Anbetracht der aktuellen Flut an Crossovern und Ensemblestücken mag dieser Umstand tatsächlich eine Erwähnung wert sein, denn mit dieser Art von grundsätzlicher Einführung erhält ein kohärentes Film- und Serien-Universum – wie es das MCU ist – die Möglichkeit eines kleinen Neuanfangs. Als bestes Beispiel könnten hierfür die episodischen Formate aufgezählt werden, die Marvel in Zusammenarbeit mit Netflix in den vergangenen Jahren den Start gebracht hat. Im Gegensatz zum epischen Spektakel auf der großen Leinwand wurde für Marvel’s Daredevil, Marvel’s Jessica Jones und Marvel’s Luke Cage eine feine Neukalibrierung der etablierten MCU-Formel vorgenommen.
Das Resultat ist beachtlich: Mit jeder neuen Marvel-Netflix-Serie erweitert sich das ultimative (Superhelden-)Porträt von New York City – jene Metropole, die einst im Finale von The Avengers zerstört wurde – um eine neue Facette. Im Fall von Doctor Strange wird diese Chance jedoch kaum genutzt. Zu konventionell ist der gesamte Films – und das nicht nur innerhalb bewährter MCU-Strukturen. Protagonist Stephen Strange (Benedict Cumerbatch) reiht sich direkt hinter Tony Stark (Robert Downey Jr.) in die Reihe reicher weißer Männer, die an Arroganz und Ehrgeiz kaum zu übertreffen sind und erst etwas verlieren müssen, bevor sie zur Läuterung gelangen, von einer Korrelation zwischen neu erlangten Kräften und dem eigenen Ego ganz zu schweigen.
Schon Scott Lang (Paul Rudd) in Ant-Man, der letzten Origin-Story im MCU, fungierte lediglich als Variation dieses Figurentyps. Stephen Strange wirkt nun nur noch wie ein Backup des Gründungsvaters, sollte dieser früher oder später aus dem Franchise ausscheiden. Es mutet fast als absurd an, betont Regisseur Scott Derrickson, der zusammen mit Jon Spaihts und C. Robert Cargill auch das Drehbuch schrieb, ab der ersten Minute von Doctor Strange, dass es sich hierbei um einen Film handelt, er in einer bestehenden Welt mit nur einen Wimpernschlag ganze Universen erschaffen kann. Eine abstrakte Spiegel-Dimension lässt Formen und Farben ineinander übergehen, als befände sich jedes Detail im ständigen Fluss.
Wenn Doctor Strang in seinen Entdeckungs- und Action-Szenen erst einmal in Fahrt kommt, gibt es keinen Grund mehr, dieser kinematischen Bewegungswut Einhalt zu gebieten und sie ihrer Dynamik zu berauben. Ähnliche wie die Traumwelten von Christopher Nolan und den Wachwoski-Schwestern legt Scott Derrickson im Prolog das Grundgerüst für einen Film, der sich in seiner Vorstellungskraft niemals einschränken lassen muss und im darauffolgenden Geschehen in einzelnen Sequenzen sogar schwindelerregende Wagnisse eingeht, wenn es darum geht, die Kulisse aus dem Boden zu reißen und tanzen zu lassen. Visuell hat Scott Derrickson zweifelsohne einen der atemberaubendsten MCU-Filme geschaffen, gerade im Vergleich zum eintönigen Captain America: Civil War.
War die Auseinandersetzung von Captain America und Iron Man thematisch höchst interessant und ebenso auf emotionalem Level ein faszinierendes Gedankenspiel, enttäuschten Joe und Anthony Russo hinsichtlich eigener inszenatorischer Ideen. So unterhaltsam und berührend die Kollision der Superhelden-Egos vonstattenging: Eine uninspirierte Routine hatte zu diesem Zeitpunkt unlängst Einzug in sämtliche MCU-Filme gehalten. Dieser Routine setzt Doctor Strange aber beherzt prächtige Bilder entgegen. Innovation sieht zwar immer noch anders aus. Scott Derrickson findet allerdings richtig Freude am verspielten Eintauchen in die Welt(en) des Films und transportiert seine ansteckende Begeisterung für die überbordende Darstellung von Verschachtelung selbstbewusst auf die Leinwand.
Selten lagen Kurzweil und Langeweile in einem MCU-Film näher beieinander als in Doctor Strange, denn so erstaunlich die nächste Kamerabewegung auch sein mag: Der Handlungsverlauf folgt ab der ersten Minute herkömmlichen Mustern, inklusive ärgerlicher MCU-Fehler, die nach all der Zeit eigentlich nicht mehr passieren dürften. Rachel McAdams muss sich als Dr. Christine Palmer leider neben Natalie Portmans Jane Foster in den Kreis schwacher bis überflüssiger Frauenfiguren gesellen, während Mads Mikkelsen als Bösewicht keinen einzigen Augenblick für sich herausspielen kann. Da treffen Sherlock Holmes und Hannibal Lecter aufeinander und es gibt nicht ein denkwürdiges GIF! #kannstedirnichtausdenken
Unglaublich, bedenkt man, dass der Mads Mikkelsen mit seiner Performance in Casino Royale in den Pantheon der denkwürdigsten James Bond-Antagonisten aufgestiegen ist – und das nur mit einem Blinzeln am Pokertisch. Warum war das im MCU nicht möglich? Eine berechtigte Frage, denn Cast und Crew sind mit Sicherheit nicht das Problem von Doctor Strange und waren es auch noch nie in einem MCU-Film. Das tatsächliche Problem ist das schlampige Umgang mit talentierten Menschen, denen der eingangs erwähnte House Style kaum Platz zu atmen gibt. Tilda Swinton, Chiwetel Ejiofor und Benedict Wong sind bemüht, ihre Figuren Charakter zu verleihen, so auch Michael Giacchino in puncto Musik. Scott Adkins bekommt dagegen überhaupt keine Chance. Das alles gelingt bis zu einen gewissen Grad, doch dann müssen die Kreativen sich der Formel unterordnen.
Ein bisschen frustrierend ist es durchaus, wie Doctor Strange einen Widerspruch nach dem anderen… vereint. Auf der einen Seite die unendlichen Möglichkeiten des puren Eskapismus, auf der anderen Seit die klaren Bestimmungen einer Marke, die es intaktzuhalten gilt: Wo Doctor Strange eben noch einen verheißungsvollen Ausblick auf das gab, was da noch kommen mag, vernichtet er im nächsten Moment sämtliche Erwartungen mit dem braven Gehorsam gegenüber all den Regeln und Richtlinien, die das MCU im Guten wie im Schlechten definieren. Immerhin liefert Scott Derrickson eine dermaßen flüssige Inszenierung ab, dass die Zeit ziemlich zügig vergeht. In wenigen raren Augenblicken blitzt er sogar durch, der funkelnde LSD-Trip, der Doctor Strange hätte werden können.
Doctor Strange © Walt Disney Studios Motion Pictures
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