Wie einen Dornenkrone legen sich seine feuchten Haare übers Gesicht, bilden gewissermaßen einen Schutzwall vor der Welt da draußen, beugen sich aber dennoch gefährlich nach innen. Immer wieder blinzelt Joe (Joaquin Phoenix), um sich zu vergewissern, dass das nicht alles ein Albtraum ist, aus dem er schweißgebadet erwachen wird. Doch wie könnte er in dieser kompromisslosen Geschichte zwischen Traum und Realität unterschieden? Die Flucht in andere Welten scheint unmöglich. Gleichzeitig befindet sich Joe unlängst an einem jener surrealen Orte, die zwar in Form von Silhouette den vertrauten Anblick der New Yorker Skyline mit sich bringen, in Wahrheit jedoch alle in einem komplett entfremdeten Universum stattfinden. Lynne Ramsey fängt verschwommene Bilder dieser Metropole und ihrer Menschen ein. Mit ihrer entschlossenen Inszenierung verwandelt sie You Were Never Really Here in der in das kompromisslose Porträt eines Auftragskillers und der urbanen Umgebung, durch die er sich niedergeschlagen schleppt.
Jeglicher Glanz ist hier verloren, erst später übernimmt ein hoffnungsvolles Grün die Erzählung und tauscht verregnete Straßen gegen den beruhigenden Impuls der Natur. Vorerst laufen aber Regentropfen langsam die Scheibe herunter, während im Hintergrund die Fassade einer ganzen Gesellschaft in sich zusammenstürzt. All der Ekel, der sich im Verborgenen angesammelt hat, quillt plötzlich aus den verbliebenen Trümmern heraus, sodass sich Joe, der nach dem Schlüssel seines Gefängnisses sucht, fortan durch ein Labyrinth aus Schmutz und Abschaum seinen Weg bahnen muss. Verfolgt vom Trauma der Vergangenheit bleibt in der Gegenwart nur die Gewalt, die genauso brutal wie zärtlich ausfallen kann, wenn Joe in die sterbenden Augen eines von der anderen Seite angeheuerten Kollegen blickt, als würde er vor einem Spiegel stehen. Dann liegen sie am Boden, beide tot und dennoch voller Leben in diesem letzten Augenblick, in dem die Veränderung zum Greifen nahe ist, der Ausbruch jedoch weiterhin von unerträglicher Ohnmacht verhindert wird.
Abgefedert wird diese Zerrissenheit von Jonny Greenwoods Musik, die das Geschehen unter Umständen allerdings ebenso befeuert. Selbst das Blut, das sich zunehmend mit dem Schweiß auf seinem Gesicht vermischt, vermag Joe auf seiner Odyssee aber nicht aus der Bahn zu bringen. Dann findet er sich plötzlich in einer Sackgasse wieder. Links und rechts befindet sich roher Tin und der Müll der Straße. Das düstere Herz schlägt laut, geradezu verräterisch. Solange Joe aber einen Puls hat, ist er am Leben, ganz egal, wie oft er sich die Plastiktüte über den Kopf stülpt und versucht, jener Sackgasse zu entkommen, die sich vor ihm auftut, als wäre sie sein Weg zur Erlösung. Erlösung findet in You Were Never Really Here allerdings stets im Abstrakten statt – wie ein Großteil des Films selbst. Für die vertrauten Vorgänge eines Rache-Thrillers findet Lynne Ramsey eine völlig neue Sprache, die mit nur einem Schnitt die Leinwand zum Beben bringt und Räume eröffnet, die wenige Sekunden zuvor noch unvorstellbar waren.
Zum Schluss bleiben Lichter und Reflexionen. You Were Never Really Here endet dermaßen abrupt, dass es schwerfällt, überhaupt etwas dieses rauen Abenteuers zu greifen. Die Reise führt tief in die Finsternis, an die Orte, die für gewöhnlich verborgen bleiben. Dennoch kündigt sich der Schluss mit unerwartet harmonischen Zügen an, sogar Milchshakes stehen auf dem Tisch, der eben noch Projektionsfläche des letzten Fluchtversuchs war. Dann braucht es das Ringen nach Entkommen gar nicht mehr, denn Joe ist längst frei, angekommen an einem besseren, an einem friedlichen Ort. Alles ist verloren, außer das Letzte, das unter keinen Umständen verlorengehen darf. Nach all den Niederlagen, die er einstecken musste, bleibt Joe zum Schluss ein Stück ungeahnter Geborgenheit, die ihn durchatmen lässt und nicht weiter von den schrillen Messerstichen entfernt sein könnte, die zuvor an Alfred Hitchcocks schonungslosen Psycho erinnern. Einmal mehr verblüfft Lynne Ramsey mit einer virtuosen wie poetischen Komposition.
You Were Never Really Here © Constantin Film
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