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A Couple – Kritik

Im Alter von 92 Jahren erfindet sich Frederick Wiseman neu. Der Filmemacher, der die vergangenen sechs Dekaden mit der dokumentarischen Form US-amerikanische Institutionen erforscht hat, liefert mit A Couple seinen ersten Spielfilm ab. Entgegen des Titels bekommen wir jedoch kein Paar zu sehen. Stattdessen fokussiert sich Wiseman ausschließlich auf eine Figur, die in einer Reihe nachdenklich wie einnehmend vorgetragener Monologe die Ehe zu ihrem Mann reflektiert: Sofia Tolstoi.

Grundlage des Films sind Tagebucheinträge und Briefe, die im Austausch zwischen Sofia und ihrem Ehemann Leo Tolstoi entstanden sind. Von einem Austausch kann jedoch keine Rede sein: Wiseman weicht nicht von Sofias Seite, sondern gibt ihr die größtmögliche Bühne, die er finden kann. Die französische Insel Belle-Île in der Bretagne dient als Kulisse des für Wiseman-Verhältnisse überraschend kurzen Films. In nur 63 Minuten wandert Sofia durch wunderschöne Gärten und an den Felsen der Küste entlang.

Gespielt wird die Protagonistin von der französischen Schauspielerin Nathalie Boutefeu, mit der Wiseman ebenfalls das Drehbuch entwickelt hat. Die enge Zusammenarbeit hinter den Kulissen ist in jedem Moment spürbar. Grüblerische Blicke, präzise Worte: Sobald die Kamera läuft erschafft Boutefeu eine mehrdimensionale Figur – doch sie ist nicht allein. Obwohl über den gesamten Film hinweg bloß eine Person spricht, entsteht eine Beziehung, deren lange Geschichte in Erinnerungen aufgeschlüsselt wird.

Zwischen den Monologen schweift Wiseman ab und verliert sich in der Natur. Wellen, die an Felsen brechen. Gräser, die im Wind zittern. Blumen in schlichter Schönheit und Ameisen, die eifrig im Close-up über Äste krabbeln. Sofia bewegt sich durch einen magischen Garten, dessen paradiesische Qualität von einem Gefühl der Einsamkeit kontrastiert wird. Mal wirkt dieser Ort lebendig, mal verschlafen und manchmal sogar verloren. Ist er überhaupt angeschlossen and den Rest der Welt?

A Couple könnte in mehrerlei Hinsicht als das Gegenstück zu Wisemans bisherigen Schaffen interpretiert werden. Für gewöhnlich beobachtet er Menschen an gut gefüllten Orten, die unmittelbar mit unserem Hier und Jetzt verbunden sind. Lange gibt er ihnen Zeit, sich vorzustellen und zu entfalten – sowohl den Menschen als auch den Orten. In diesen vielschichtigen Porträts über die Institutionen unserer Gesellschaft geht es um das große Miteinander. Sofias Monologe könnten davon nicht weiter entfernt sein.

In seiner 45. Regiearbeit probiert sich Wiseman in einer abstrakten Inszenierung aus. Durch seine Bilder strömt gleichermaßen die Gelassenheit eines Altmeisters wie die Neugier eines Regisseurs, der noch lange nicht alles vom Kino entdeckt hat. Bereits in Seraphita’s Diary von 1982 und dem 20 Jahre später erschienen The Last Letter hat sich Wiseman dieser stilisierten, von Monologen getrieben Form des Erzählens angenähert. Er selbst betrachtet A Couple allerdings als seinen ersten Spielfilm.

Der Umbruch ist unmittelbar mit seinem eigenen Leben verbunden. Gedreht hat Wiseman den Film während der Pandemie – nur wenige Monate nach dem Tod seiner Frau, Zipporah Batshaw Wiseman, mit der er 66 Jahre lang verheiratet war. A Couple erhält dadurch eine unerwartet berührende Ebene. Am Ende hat er doch noch eine Institution gefunden, die Wiseman noch nicht erforscht hat: die Ehe. Aufmerksam hört er Sofia Tolstoi zu.  Keine Ablenkung. A Couple ist ein Film voller Einfachheit. „And I feel more or less fine.“

Beitragsbild: A Couple © Zipporah Films

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