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All of Us Strangers – Kritik

Andrew Haigh ist ein Meister darin, Menschen durch Reflexionen zu erforschen. Von seinem Durchbruchsfilm Weekend bis zur fantastischen HBO-Serie Looking: Immer wieder tauchen Spiegelungen und Lichter auf, die selbst dem engsten Raum eine Unendlichkeit verleihen. Oft versteckt sich hinter dem Blick auf eine gläserne Oberfläche, die sich in ein geheimnisvolles Farbenspiel verwandelt, der Versuch einer Annäherung an das, was nicht ausgesprochen werden kann. Haigh driftet bewusst in das Verschwommene ab, um den Text zwischen den Zeilen zu greifen. Noch nie aber war so ungewiss, wer uns durch die Reflexion entgegenblickt, wie in All of Us Strangers.

Haighs jüngste Regiearbeit feierte dieses Jahr im August auf dem Telluride Film Festival ihre Premiere und markiert seine Rückkehr auf die große Leinwand. Seit dem 2017 erschienenen Lean on Pete war Haigh hauptsächlich im Fernsehen unterwegs. Sein größtes Projekt: Die fünfteiligee Historienserie The Nort Water mit Jack O’Connell und Colin Farrell in den Hauptrollen, die sich als erbarmungsloses Survival-Drama in der Arktis entpuppte. All of Us Strangers könnte kaum weiter von den rauen Bildern des Jahres 1859 entfernt sein. Haigh entführt ins London der Gegenwart und verliert sich im sanften Flimmern der Dämmerung – Wärme, Melancholie, Einsamkeit.

Ein Hochhaus, das die Stadt überblickt, aber nichts vom pulsierenden Leben der Metropole an der Themse einfängt. Haighs London gleicht mehr dem stillen Los Angeles einer nahen Zukunft, das Spike Jonze in dem romantischen Science-Fiction-Film Her zum Leben erweckt, garniert mit einer Prise Trauer und Verlust. Eine Stadt, die immer da, aber niemals greifbar ist. Adam (Andrew Scott) ist allein. Verloren blickt er aus dem Fenster, als wäre er der letzte Bewohner eines von J.G. Ballards futuristischen Hochhäusern, deren Architektur das Ende der Zivilisation einläutet. Tatsächlich ist er jedoch der erste, der eines der Apartments bezieht und auf Gesellschaft hofft.

Mit Harry (Paul Mescal) steht diese Gesellschaft eines Abends vor seiner Tür. Adam zögert, obwohl Haighs Inszenierung von Anfang an eine tiefe Verbindung signalisiert. In nachdenklichen Bildern nähern sich die beiden an, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. Jedes Wort, jede Berührung erhält mit fortschreitender Laufzeit neues Gewicht, gerade in Hinblick auf die letzten Momente des Films, die der vor unseren Augen entstehenden Liebesgeschichte eine zerreißende Tragik verleihen. Zu den Klängen des Frankie Goes to Hollywood-Songs The Power of Love lässt Haigh seine Figuren zu Sternen werden, strahlend in der Dunkelheit, strahlend in der Einsamkeit.

Neben Harry gibt es zwei weitere Personen, die Adam nicht aus dem Kopf gehen: seine Eltern (Claire Foy und Jamie Bell). Seit Jahren hat er sie nicht gesehen. Eine Reise von der Stadt aufs Land führt die Entfremdeten wieder zusammen. Es fühlt sich an, als begibt sich Adam durch ein unsichtbares Portal, das ihn direkt in seine Erinnerungen katapultiert. Mutter und Vater sehen noch genauso aus, wie an dem Tag, an dem er ihnen den Rücken kehrte. Das Bild der Eltern ist eingefroren, die Zeit jedoch nicht stehengeblieben. Adam pendelt zwischen der Kälte seiner Wohnung im Hochhaus und der Wärme seines Kinderzimmers, einem zerfallenden Fluchtort in der Vergangenheit.

Doch wo befindet er sich wirklich? In den Albträumen, aus denen er schweißgebadet aufwacht? In den Drehbüchern, die er fürs Kino und – wenn es sein muss – fürs Fernsehen schreibt? In den Seiten von Taichi Yamadas Roman, der All of Us Strangers zugrunde liegt? Oder in den Reflexionen, die Haigh als Tor nutzt, um die Grenzen von Raum und Zeit aufzuheben. Erscheinungen und Ebenbilder: Obwohl der Film auf einer ziemlich eindeutigen Note endet, verwischt Haigh über weite Strecken die Gesichter im Glas und verwandelt sie in Geister, die gleichzeitig für Geborgenheit und Grusel sorgen. Diesem hypnotisierenden Sog kann man sich nur schwer entziehen.

Beitragsbild © Searchlight Pictures/Disney