„I’m sorry, the old Taylor can’t come to the phone right now.“ So beginnt eine der prägnantesten Passagen der Lead-Single von Taylor Swifts sechstem Album, Reputation. Warum sie nicht ans Telefon kann? „Oh, ‚cause she’s dead“, erklärt die Sängerin mit gleichermaßen überraschtem wie amüsiertem Tonfall, als würde sie eine längst bekannte Nachricht wiederholen, die zur Person am anderen Ende der Leitung noch nicht durchgedrungen ist. Schon mehrmals hat sich Taylor Swift im Lauf ihrer Karriere neu erfunden, um den Erwartungen anderer, aber vor allem um ihren eigenen zu entsprechen. Was auf den ersten Blick spielerisch und bissig wirkt, erfordert unfassbar viel Mut und Kraft. In ihrer sehenswerten und berührende Dokumentation Miss Americana begleitet Regisseurin Lana Wilson den Popstar auf diesem Weg.
Egal wie oft eine Montage die bemerkenswerten Erfolge von Taylor Swift in Miss Americana illustriert: Es gibt nichts Verblüffenderes als ihre Selbstzweifel, die wie drohende Schatten das Scheinwerferlicht auf der Bühne ersticken. Da steht Taylor Swift vor einem Millionenpublikum, das ekstatisch jubelt und jeden einzelnen Songtext mitsingen kann, und trotzdem fühlt sich der Moment nicht richtig an. „I became the person who everyone wanted me to be“, resümiert die Musikerin am Ende des einleitenden Prologs und gibt damit einen unerwarteten Blick auf ihre Einsamkeit Preis, die fortan als roter Faden von Miss Americana fungiert. Was folgt, sind viele dieser aufrichtigen, intimen Rückblicke – und das obwohl (oder gerade weil) Taylor Swift persönlich in das Projekt involviert ist.
Wie viel Wahrheit kann eine Dokumentation über eine Künstler*in transportieren, wenn diese selbst unmittelbar in die Produktion involviert ist? Einerseits gelangt die Kamera vermutlich nicht näher an einen lebenden Star als durch dessen direkte Beteiligung. Andererseits offenbart sich ein Dilemma, da die portraitierte Persönlichkeit nun sehr leicht das Narrativ beeinflussen kann. Im Fall von Miss Americana entpuppt sich Taylor Swift aber selbst als jene, die regelmäßig mit dem Narrativ hadert und den eigenen Werdegang kritisch hinterfragt. So wie sie sich als Musikerin mit jedem Album weiterentwickelt, ist auch diese Dokumentation Teil von einer größeren Selbstfindung. Taylor Swift erkennt sich in einem System und versucht daraufhin, aus diesem auszubrechen.
Aufgewachsen in einer Industrie, die weit weniger fortschrittlich ist, als sie es gerne wäre, musste Taylor Swift schon viele Niederlagen einstecken, selbst dann, wenn sie als Gewinnerin auf der Bühne stand. Miss Americana ist allerdings nicht nur daran interessiert, eine Doppelmoral im Musikgeschäft zu entlarven, die sich insgeheim jeder denken kann. Vielmehr rückt die Dokumentation Taylor Swift als junge Frau in den Vordergrund, die realisieren muss, wie ihr Streben von den Erwartungen anderer Menschen gelenkt wurde, ehe sie anfängt, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Die stärksten Momente in Miss Americana gestalten somit durch den Einblick in Taylor Swifts Gedankenwelt und die Erfahrung, welche Entscheidungen die größte Überwindung kosten.
Als Außenstehende bekommen wir oft nur das perfekte, konstruierte Bild von Taylor Swift zu Gesicht, während begleitet vom Blitzlichtgewitter so viele Schlagzeilen entstehen, dass ab einem gewissen Punk nur noch ein verurteilendes Rauschen zu vernehmen ist. Miss Americana schafft ein Gefühl für den Druck, dem Taylor Swift als Popstar ausgesetzt ist, und was dieser in ihrem Kopf alles auslöst. Lana Wilson inszeniert die Musikerin dabei nicht als Opfer, sondern vor allem als Mensch, der anfängt, sich vom toxischen Teil seiner Umgebung zu lösen und auch bei den Dingen eine deutliche Position bezieht, die sich weniger leicht verkaufen lässt. Miss Americana thematisiert den Prozess am deutlichsten, wenn es um Taylor Swifts Entscheidung geht, ihre Stimme politisch einzusetzen.
Bei der Präsidentschaftswahl 2016 hatte sie sich noch auf neutralen Boden zurückgezogen. Zu groß war die Angst, ein ähnliches Schicksal wie etwa die Dixie Chicks nach ihren kritischen Äußerungen gegenüber George W. Bush in Kauf nehmen zu müssen, zumal sie ihre Wurzeln ebenfalls im konservativ geprägten Country-Umfeld hat. Präzise und effektiv fächert Miss Americana die einengenden Strukturen auf, bevor Lana Wilson den Fokus wieder ganz auf Taylor Swift richtet und eine aufgeschlossene, neugierige und inspirierende Persönlichkeit entdeckt. Taylor Swift erfindet sich nicht mehr neu, um anderen zu gefallen. Sie erfindet sich neu, um Dinge auszuprobieren und ihren eigenen Weg zu gehen. Am schönsten ist in Miss Americana somit der Moment der Begeisterung, wenn Taylor Swift an einem neuen Song arbeitet und merkt, dass ihre Ideen funktionieren. Ein kraftvolles Porträt.
Miss Americana © Netflix
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