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Poor Things – Kritik

Yorgos Lanthimos ist ein Meister darin, in unbehaglichen Bilder die abgründige Seite Menschen herauszukitzeln. Zuletzt erforschte er die Machtgefälle am englischen Königshof im 18. Jahrhundert und entführte in ein Labyrinth aus verzerrten Räumen voller Schatten. Auf den Triumph von The Favourite folgt seine zweite Zusammenarbeit mit Emma Stone als Hauptdarstellerin: Poor Things, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray, springt ein Jahrhundert weiter und erzählt eine Frankenstein-Variation, die einem unbändigen Sturm an filmischer Kreativität gleicht. Das beeindruckendste ist die Unerschrockenheit, die in jeder Einstellung steckt.

Die Geschichte beginnt in der Nacht auf der Tower Bridge in London. Dunkle Wolken brauen sich am Himmel zusammen, während eine Frau im blauen Kleid auf das Geländer steigt. Mit apokalyptischer Hoffnungslosigkeit erobert Poor Things die große Leinwand und dennoch gleicht der nachfolgende Sturz in die Tiefe mehr dem Moment, wenn Alice durch den Kaninchenbau ins Wunderland fällt. Geradezu schwebend verschwindet die Frau im Nebel. Wo sie aufschlägt, erfahren wir erst später, als der Medizinstudent Max McCandless (Ramy Youssef) den unheimlichen Dr. Godwin „God“ Baxter (Willem Dafoe) zu seinem neuesten Experiment befragt, namentlich Bella Baxter.

Die von Stone verkörperte Protagonistin wurde aus der schwangeren Frau auf der Tower Bridge geschaffen. Godwin setzt das Gehirn des ungeborenen Kindes in den Körper der Mutter ein und erweckte sie mit Elektroschocks zu neuem Leben. Eine Szene, die sich Mary Shelley nicht verstörender hätte ausdenken können. Bellas erwachsenes Erscheinungsbild kollidiert mit dem Verstand eines Kleinkindes. Lanthimos rahmt das Kapitel ihrer Kindheit und Jugend in einem schwarz-weißen Coming-of-Age-Film, der nur erahnen lässt, in welcher Farbkraft Poor Things explodiert, sobald Bella vor die Tür tritt und sich von ihrem sexuellen Erwachen mitreißen lässt.

Der verführerische Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) weckt in Bella ein Verlangen, das Godwin nicht länger kontrollieren kann. Sein Experiment verselbstständigt sich. Doch er soll nicht der einzige Mann in diesem Film bleiben, der sich seine Ohnmacht gegenüber Bella eingestehen muss. Am Ende sind weder er noch Max und Duncan Bellas Entdeckergeist gewachsen. Ihr Verstand entwickelt sich rasant und vereint auf verblüffende Weise entwaffnende Naivität und Scharfsinn. Selbst Lanthimos, dessen Filme sich durchaus als Versuchsanordnung verstehen lassen, muss sich bei Poor Things als Regisseur Bellas ungebremsten Drang anpassen.

Das Experiment ist nicht länger der Rahmen der Geschichte, sondern die Heldin dieser. Bella begibt sich auf eine Suche nach Selbstbestimmung und nur wenige Figuren können mit ihrem Tempo mithalten, obwohl sich jeder ihrer Wegbegleiter anfangs in Überlegenheit wägt. Lanthimos inszeniert diese Reise als unberechenbare Odyssee aus Sex, Ekel und Humor: Furioses Springen im Bett, wie es Bella nennt, trifft auf aufgeschnittene Körper im Operationsaal, während jede Szenen auf eine Pointe hinausläuft, die jegliche Norm des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf den Kopf stellt. Ein provokanter Rhythmus, der sich auch nach 141 Minuten nicht erschöpft.

Von London über Lissabon bis zu Paris: Es gibt sehr viel zu entdecken in Poor Things, nicht zuletzt dehnt Kameramann Robbie Ryan die Bilder mit seinem Weitwinkelobjektiv so weit, dass sich vertraute Formen auflösen. Das Produktionsdesign von Shona Heath und James Price spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle: Entfesselter Steampunk trifft auf Antoni Gaudí und der Geist von Tim Burton und Terry Gilliam wacht zu jeder Sekunde über den surrealen Bilderwelten, in denen digitale Erweiterungen und Miniaturen in bewusst artifiziellen Kulissen verschmelzen. Oft ist der Erzählton entlarvend. Im Zusammenspiel mit den Bildern vor allem aber eines: verträumt.

Zusammengehalten wird der Film von Stones phänomenaler Performance, die sich furchtlos von einer bizarren Situation in die nächste begibt. Nach Poor Things und der nicht weniger grenzüberschreitenden Comedy-Serie The Curse, in der sie aktuell mit Nathan Fielder und Benny Safdie zu sehen ist, dürfte sie nach sogar die furchtloseste Schauspielerin Hollywoods sein. Es gibt kein Lehrbuch, in dem der Weg vorgeschrieben steht, den Stone dieses Jahr eingeschlagen hat. Der Oscar-Gewinn für La La Land gleicht bereits einer Randnotiz auf der Suche nach mutigen Schauspielherausforderungen. Und das Beste ist: Stone wirkt nicht bemüht, sondern schlicht begeistert.

Beitragsbild: Poor Things © Walt Disney Studios Motion Pictures