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The Boy and the Heron – Kritik

Rauch aus der Ferne. Das Krankenhaus, in dem Mahitos Mutter arbeitet, brennt nach einem Luftangriff. Ohne zu zögern, packt der Junge seine Sachen, rennt den Berg hinunter und bahnt sich seinen Weg durch eine Straße voll von aufgewühlten Menschen, die in die entgegengesetzte Richtung flüchten. Es ist 1943 und wir befinden uns in Tokio während dem Pazifikkrieg. Trotz aller Anstrengung kommt Mahito nicht vorwärts. Mit jedem Schritt kämpft er gegen ein pulsierendes Hitzeflimmern, das von der tosenden Gewalt des Feuers kündet. Selbst wenn er sich mit ganzer Körperkraft gegen den unsichtbaren Wall stellt, kann er das Schlimmste nicht verhindern.

The Boy and the Heron, der neue Film von Hayao Miyazaki, beginnt mit furiosen Bildern, die zu keiner Sekunde erahnen lassen, dass sich der kreative Kopf hinter den Ghibli-Studios eigentlich vor einer Dekade zur Ruhe setzen wollte. 2013 kündigte Miyazaki mit The Wind Rises sein Abschiedswerk an. Es war nicht das erste Mal, dass er dem Filmemachen den Rücken kehren wollte. Schlussendlich hat es ihn immer wieder in die Welt der bewegten Bilder zurückgezogen. Zum Glück! Mit 82 Jahren bringt er einen seiner schönsten und zugleich traurigsten Filme ins Kino. The Boy and the Heron erzählt eine zutiefst tragische Geschichte und ist dennoch so leicht wie die Feder eines Reihers.

Wie so oft bei Miyazaki steht im Zentrum des Films eine junge Figur, deren persönlicher Schmerz in einer Reihe übernatürlicher Begegnungen verarbeitet wird. Ein Reiher lockt Mahito zu einem geheimnisvollen Turm, der als Portal in eine fremde Welt fungiert. Hier soll seine Mutter noch am Leben sein. Mahito, zwölf Jahre alt, weiß, dass er dem Reiher nicht trauen kann. Dennoch überwiegt die Sehnsucht nach dem wichtigsten Menschen in seinem Leben zu sehr. Er folgt dem Tier, das sich später als kleiner Mann im Federkostüm offenbart. Ein unzuverlässiger Verbündeter, der in seiner widerspenstigen Art von treuen Miyazaki-Begleitern à la Totoro kaum weiter entfernt sein könnte.

Obwohl sich Joe Hisaishis von behutsamen, minimalistischen Klavierklängen geprägte Filmmusik tröstend um Mahitos Einsamkeit legt, erweist sich der Film als absonderliche Reise durch eine Fantasiewelt, in deren verträumten Orten nicht selten verstörend düstere Schatten schlummern. Hingebungsvoll gestalten Miyazaki mit seinen Animator:innen eine Horde von Papageien, die in bunten Farben und fluffigen Federkleidern auftreten. Insgeheim verstecken sie aber Messer und Schlachtbeil hinter dem Rücken. Wundervoll, dieser Kontrast: Unschuldige Blicke, in deren Planlosigkeit man sich nur verlieben kann, doch plötzlich weicht die verpeilte Fassade einer hungrigen, mordlustigen Meute.

Miyazaki balanciert die abgründigen und die verspielten Momente mit dem Können eines Meisters und der Neugier eines Geschichtenerzählers, der gerade erst angefangen hat, die Form in all ihren Möglichkeiten zu entdecken. Obwohl The Boy and the Heron auf den ersten Blick alle vertrauten Miyazaki-Elemente zusammenführt, handelt es sich bei dieser Odyssee durch wankende Welten keineswegs um eine Best-of-Sammlung für den nächsten Abschied. Miyazaki erzählt einfach weiter, weil er noch viel mehr Ideen hat. Allein die Dualität, mit der er das Feuer zu Beginn des Films auflädt – lähmende und gleichzeitig zitternde Bilder -, sind Zeugnis für seine unerschöpfliche Schaffenskraft.

Später lässt Miyazaki eine Gruppe älterer Frauen, die aufgeregt um einen Koffer wuseln, wie eine Wellenbewegung durch den Raum tanzen, ehe er kleine weiße rundliche Wesen in einem chaotischen Reigen durch die Fantasiewelt bewegt. Hinter The Boy and the Heron steckt ein bewundernswertes Wissen über die Animationskunst. Noch bewundernswerter ist aber die Eleganz, mit der Miyazaki seine Kreativität in einer berührenden Erzählung bündelt, die Mahitos hoffnungslosen, selbstzerstörerischen Gedanken mehr als eine einfache Parabel entgegensetzt. Am Ende steht ein tiefes Verständnis für die zerrissenen Gefühle des Jungen – und die der Figuren um ihn herum.

Beitragsbild: The Boy and the Heron © Wild Bunch