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The Holdovers – Kritik

Was wäre, wenn Harry Potter die Weihnachtsfeiertage allein in Hogwarts unter der Aufsicht von Severus Snape verbringt? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Alexander Payne die Inspiration für seinen neuen Film aus der Fantasiewelt von J.K. Rowling gezogen hat. Trotzdem ist das Bild sehr passend. Denn The Holdovers berichtet genau von einer solch ungewöhnlichen Begegnung. In besinnlicher Einsamkeit trifft ein verlorener Student auf das strengste Mitglied der Lehrerschaft. Jeder Schulverweis wäre ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, um diesem Albtraum zu entkommen. Doch Payne bleibt in den kalten Unterrichtsräumen und sucht nach einem wärmenden Kamin.

Zuerst tauchen wir aber in den eisigen Dezember des Jahres 1970 ein. Unbeschwert und fleißig zu Boden fallende Schneeflocken versuchen, den Schrecken des Vietnamkriegs zu begraben, während sich die meisten Studierenden der Barton Academy in Neuengland auf dem Sprung in die Heimat befinden. Nur fünf Unglückliche, die keine Familie haben oder von dieser im Stich gelassen wurden, müssen die Feiertage auf dem Gelände verbringen – unter der Aufsicht des unbeliebten Geschichtsprofessors Paul Hunham (Paul Giamatti). Versorgt werden sie von der zuvorkommenden Küchenchefin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph), deren Sohn gerade erst im Krieg gefallen ist.

Die Stimmung ist gedrückt. Nicht zuletzt würden die Halbstarken lieber ein Abenteuer à la Der Fänger im Roggen erleben. Stattdessen finden sie sich in einer Breakfast Club-Situation wieder, zumindest für ein paar Tage. Danach verschwinden vier der fünf Jungen. Nur der 15-jährige Angus Tully (Dominic Sessa) bleibt zurück und bereitet sich darauf vor, genauso wie Jack Torrance in The Shining dem Wahnsinn zu verfallen. Klagende Leere und Kälte: Der Teufel sitzt ihm gegenüber und denkt sich selbstgerecht eine Bestrafung nach der anderen aus. Die Wahrheit sieht jedoch anders aus. Weder ist Angus ein Wahnsinniger noch Paul der Teufel. Geplagt werden sie von Unsicherheit.

The Holdovers markiert Paynes ersten Film seit sechs Jahren. Zuletzt war er mit der satirischen Sci-Fi-Komödie Downsizing auf der großen Leinwand vertreten. Sein bis dato ambitioniertestes und teuerstes Filmprojekt verwandelte sich trotz großer Namen wie Matt Damon in einen finanziellen Misserfolg und wurde sehr gespalten aufgenommen. Einige der Projekte, an denen Payne zwischenzeitlich gearbeitet hat, sind an andere Filmschaffende übergegangen, u.a. The Menu (Mark Mylod, 2022) und The Burial (Maggie Betts, 2023). Mit The Holdovers bewegt er sich nun wieder in der Ecke feinfühlig erzählter Dramen wie Nebraska, inklusive eines zärtlichen Election-Echos.

In der Highschool-Komödie von 1999 bündelte Payne die freche, neugierige Energie von Reese Witherspoon, die sich mit einem Star der vorherigen Generation an Highschool-Komödien anlegte: Matthew Broderick. Angus würde diese Ausgelassenheit lieben, doch er steckt in einem vergessenen Film aus den 1970er Jahren fest, der in einer anderen Welt von Harold and Maude-Regisseur Hal Ashby inszeniert worden wäre. Payne imitiert aber nicht bloß die körnigen Bilder einer längst vergangenen Dekade. Er füllt sie mit stillem Leben und einer berührenden Mischung aus Trostlosigkeit und Geborgenheit. Man kann die Hausgeister förmlich spüren, wie sie durch die Schule gleiten.

Obwohl Dominic Sessa seinen Angus mit großer Unruhe zum Leben erweckt, versichert Paynes Inszenierung von Anfang an, dass The Holdovers eine gewisse Gemütlichkeit zugrunde liegt. Angefangen beim idyllischen Schneegestöber bis zu den Schichten an Mänteln, Mützen, Handschuhen und Schals, mit denen die Figuren der Kälte trotzen. Angus, Paul und Mary könnten ungleicher kaum sein. Dennoch offenbart Drehbuchautor David Hemingson viele feine Verbindungen zwischen den Figuren – und eine Frage, die mal mehr, mal weniger bedrohlich als Damoklesschwert in den Vordergrund tritt: Werden sie sich verstehen oder reißt der Geduldsfaden in der Ausnahmesituation?

Payne balanciert die Suspense zwischen zurückhaltender Feiertagsstimmung und der heimlichen Sehnsucht nach Gemeinschaft, bis er ein Einfallstor in die Tragik seiner Figuren entdeckt, das jegliche Genre-Mechanismen obsolet macht. In der Abgeschiedenheit der Weihnachtsfestung Barton entsteht ein neues Vertrauen unter Menschen, die für gewöhnlich nur Zweckbeziehungen eingehen. Payne will herausfinden, ob hinter den Gesichtern einer Institution mehr als das Förmliche des Arbeits- bzw. Schulalltags existieren, und stößt auf eine ganze Grube voller unterdrückter Geschichten, die maßgeblich zum Verständnis der verletzten Figuren beiträgt.

In The Holdovers verwandelt sich der Ort, an dem eigentlich niemand sein will, in einen sicheren Ort, an dem die üblichen Machtgefälle schrittweise außer Kraft gesetzt werden. Die Menschen treten hinter den Positionen hervor, die sie in ihrem normalen Leben ausfüllen, und erschaffen ein schüchternes Weihnachtswunder der Annäherung – eine unerhörte Fantasie, die unmittelbar bestraft werden muss, sobald der Alltag in die Hallen von Barton zurückkehrt. Dazwischen findet Payne aber wertvolle Momente voller Empathie und Verständnis. Und eine schlichte Schönheit, die überwältigender ist als jede Strafe, die sich eine Autoritätsperson ausdenken kann.

Beitragsbild: The Holdovers © Universal Pictures