Es war ein aufregendes Wochenende für Serienliebhaber rund um den Globus. Während Netflix am vergangenen Freitag mit Marvel’s Luke Cage die dritte eigenproduzierte Superhelden-Serie in Stellung brachte, enthüllte Amazon das sechsteilige Werk, an dem Woody Allen in den vergangenen Wochen und Monaten gearbeitet hat. Darüber hinaus startete mit der zweiten Staffel von Ash vs Evil Dead auf Starz ein weiterer Beweis, dass Serien-Adaptionen populärer Kinofilme durchaus ihre Existenzberechtigung im Zeitalter des Peak TV haben. Auch HBO wagt sich mit seinem jüngsten Neustart in dieses Metier: Westworld verlagert Michael Crichtons gleichnamige Dystopie aus dem Jahre 1973 ins horizontal erzählte Narrativ. Die Kreation von Jonathan Nolan und Lisa Joy muss sich jedoch nicht nur als würdige Fortsetzung des Science-Fiction-Western-Klassikers beweisen, sondern – viel wichtiger noch – HBO den längst überfällig Hit garantieren, der seit dem Start von Game of Thrones 2011 auf sich warten lässt.
Wenngleich HBO in den letzten fünf Jahren zahlreiche – mitunter wirklich herausragende – Formate ins Leben gerufen hat, fehlt dem US-amerikanischen Kabelsender ein quotentechnischer Überflieger vom Kaliber des Westeros-Abenteuers. Nur noch zwei Staffeln währt der Kampf um den Eisernen Thron. Danach ist (vorerst) Schluss und selbst die qualitativ hochwertigsten HBO-Serie dürften die Abstinenz von feuerspuckenden Drachen nicht komplett abfedern können – zu groß ist das Phänomen rund um die von George R.R. Martin erdachte Geschichte. Für HBO steht folglich einiges auf dem Spiel, wenn Westworld das nächste Game of Thrones werden soll. Nicht zuletzt hat die millionenschwere Produktion schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt, um nun endlich ihre Premiere zu feiern. Angefangen bei Dreheskapaden bis hin zu mehreren Startverschiebungen: Im Rahmen von drei Jahren hat sich die turbulente Entstehung der Blockbuster-Serie geradezu in einen Mythos verwandelt, der ausreichend Stoff für eine eigene Dramaserie bieten würde.
Westworld eilt ein unglaublicher Ruf voraus, als hätte Apocalypse Now einen gebürtigen Nachfolger in Serienform gefunden. Die entscheidende Frage ist nur: Wird sich die Welt in vier Dekaden noch an die gigantische wie risikoreiche Unternehmung erinnern oder ereilt Westworld am Ende des Jahres das gleiche ernüchternde Schicksal, das Vinyl vor ein paar Monaten zuteilwurde. Trotz beachtlicher Namen wie Martin Scorsese, Terence Winter, Mick Jagger und Rich Cohen bliebt der musikalischen Odyssee durch die 1980er Jahre der Einzug in die nächste Runde verwehrt. Es wäre unfassbar tragisch, wenn Westworld ähnlich unrühmlich von der Bildoberfläche verschwindet, denn ausgehend von der Pilot-Episode, The Original, könnte uns nicht weniger als eine jener großen Dramaserien erwarten, wie sie nur alle paar Jahre ihren Weg auf die heimischen Bildschirme findet. In knapp 70 Minuten geben Jonathan Nolan und Lisa Joy Ausblick auf ein Epos, das sich nicht nur seiner Größe, sondern ebenfalls seiner Verantwortung und Aufgabe bewusst ist.
Ab der ersten Sekunde führt Westworld zweispurig, verbindet stets die vordergründige Erzählung mit der omnipräsenten Metaebene. 30 Jahre besteht er bereits, der ultimative Freizeitpark. Bisher ist noch kein Fehler aufgetreten; die Katastrophe ist regelrecht überfällig. Doch zu Beginn gibt es keinen Grund zur Sorge: Menschen kommen aus allen Herrenländern ins gelobte Land, wo sie tun und lassen können, was sie wollen. War der erste Besuch im Wilden Westen noch ein Familienausflug, so hat sich langsam, aber sicher herauskristallisiert, das die Westworld vorzugsweise als Katalysator all jener Fantasien fungiert, für die in der echten Welt kein Platz ist. Hier kann gemordet werden, hier kann vergewaltigt werden. Blut und Tränen vereinen sich im aufgewirbelten Staub der Prärie. Spätestens wenn die Gäste den Fluss überqueren, kennt ihre Abgründigkeit keine Grenzen mehr. Warum auch? Die sogenannten Newcomer sind unsterblich und am nächsten Tag erfolgt ganz automatisch, ganz selbstverständlich ein Reset.
Der Diskurs um Gewissen und Moral ist schnell eröffnet: Der Mensch aus Fleisch und Blut scheint keinen Deut ehrlicher als die mechanischen Konstruktion, die ihm gegenübersteht. Generell spielt die erste Episode sehr geschickt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, ob die eingeführten Figuren nun künstlicher Natur sind oder nicht. Es ist verblüffend, was Dr. Robert Ford (Anthony Hokins) seit Eröffnung des Parks geschaffen hat, ja, zu verblüffend, wie eine kritische Stimme im Kontrollzentrum findet. „Do you want to think that your husband is really fucking that beautiful girl or that you really just shot someone? This place works because the guests know the hosts aren’t real.“ Zahlreiche Bestandteile von Westworld spiegeln sich in diesem Dialogauszug wieder, der interessanteste und vielleicht auch unerwartetste ist die selbstreflexive Ebene als Serie aus dem Hause HBO. Selten machte sich der Sender selbst zum Thema in einem seiner eigenen Formate. Westworld geht beinahe als Therapiestunde durch.
„Game of Thrones is just tits and dragons“, ließ Ian McShane kürzlich verlauten, als er hinsichtlich seines kurzen Auftritts in der sechsten Staffel der Fantasy-Serie befragt wurde. Damit trifft er auch einen Kernteil der etablierten HBO-Formel, die sich mit The Sopranos geformt und in True Blood ihre bisher intensivste (sprich: exploitativste) Ausarbeitung erfahren hat. HBO, Heimathaften all jener Dinge, die im US-amerikanischen Network-Fernsehen keinen Platz haben, geizte nie mit Sex und Gewalt. Westworld reiht sich nahtlos in diesen Reigen, spricht damit einhergehende Probleme jedoch aktiv an, indem ein ständiger Perspektivenwechsel stattfindet. Verweilt die Kamera für ein Gros der Laufzeit in den täuschend echten Augen von Dolores Abernathy (Evan Rachel Wood), blickt sie ebenso regelmäßig hinter die Kulissen, wo ein strenges Protokoll hinsichtlich der Sicherheitsmaßnahmen des Parks dominiert. Entscheidungen werden von verschiedenen Parteien gründlich hinterfragt, besonders dann, wenn es um das Spektakel geht.
Dieses Spektakel ist aber nicht nur ein schockierender Shootout am helllichten Tag zu einer unangenehm faszinierenden Variation des Rolling Stones-Song Paint It Black. Nein, dieses Spektakel ist auch die Serie mit all ihren Möglichkeiten, die sie uns Zuschauern offeriert, wie es der Park im Fall seiner Gäste tut. Jonathan Nolan und Lisa Joy befinden sich auf einem unheimlich spannenden Pfad, was die Doppeldeutigkeit ihrer Geschichte angeht, wissen aber ebenso, wann es gilt, der Metapher Einhalt zu gebieten und sich den Figuren ihrer Welt zu widmen. Diese sind nicht weniger uninteressant. Ganz im Gegenteil sogar: Sie sind es, die da Tor zu den philosophischen Gedankenspielen aufstoßen. Und die sind es, die diese philosophischen Gedankenspiele überhaupt erstrebenswert machen. Wenn The Gunslinger (Ed Harris) davon redet, in ein tieferes Level dieses Spiels vordringen zu wollen, ist Gänsehaut garantiert. Hinter all den majestätischen Sonnenuntergängen und Landschaftspanoramen verbirgt sich etwas Ungeheures, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Als wäre Damon Lindelofs Insel aus Lost in Form der Westworld zu neuem Leben erwacht, offenbaren sich fast im Minutentakt neue Geheimnisse und Konflikte, die das größere Bild der Serie erahnen lassen. „Smart enough to guess there’s a bigger picture, but not smart enough to see what it is.“, heißt es zu einem späteren Zeitpunkt gleichermaßen bedrohlich sowie die Spannung ins Unerträgliche befeuernd. Zweifelsohne ist diese Aussicht auf eine dermaßen reiche Welt die größte Stärke der Pilot-Episode, die mit Sicherheit zu den besten ihrer Art gezählt werden kann. Das Potential quillt aus allen Ecken und Kannten. Jetzt müssen Jonathan Nolan und Lisa Joy nur noch einen roten Faden finden, um an der schier erdrückenden Themenlast nicht zu ersticken. Vielleicht wissen die Kreativen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, was für seine Serie Westworld später einmal sein soll. Sicher ist nur, dass Westworld nach diesem fabelhaften Auftakt jede Serie dieser Welt werden kann – und damit auch eine der besten.
Westworld © HBO
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