Westworld setzt seinen Siegeszug fort. Nach dem phänomenalen Debüt vergangene Woche schaltet Chestnut, die zweite Episode der ersten Staffel, zwar einen Gang zurück. Negativ ins Gewicht fällt diese Gemächlichkeit allerdings nicht. Ganz im Gegenteil: Nach dem furiosen Auftakt muss sich das Erlebte erst einmal setzen und die unbändige Informationsflut verarbeitet werden. Jonathan Nolan und Lisa Joy, die auch bei diesem Kapitel in federführender Position tätig waren, ruhen sich trotzdem nicht auf dem Erfolg aus, sondern nutzen die entspannte Atmosphäre zur Vertiefung angerissener Subplots und stellen darüber ein paar neue Figuren ins Rampenlicht, die den Themenpark um eine weitere Facette bereichern, nämlich die Gäste.
Zuletzt ging es vordergründig um die Schöpfer und ihre Schöpfungen. Nun betritt die dritte Partei das Feld und tobt sich aus. Sie ist unberechenbarer als man zuerst annehmen würde. Oder zumindest so unberechenbar, dass sich einer der Verantwortlichen im Kontrollraum der Westworld dazu bewogen sieht, das durchtriebene Handeln des Man in Black (Ed Harris) seinem Vorgesetzten zu melden. Ob er den freudig vor sich hintötenden Gast etwas bremsen soll? Auf keinen Fall! Nach wie vor gilt: Der Kunde ist König und alles um ihn herum dient ausschließlich seinem Vergnügen. Wer eine Eintrittskarte in den Wilden Westen löst, der soll diesen auch bekommen. Keine Grenzen, keine Limits. Nur so findet finden die Figuren heraus, wer sie wirklich sind.
Die Frage, wer man wirklich ist, zieht sich wie ein roter Faden durch Chestnut. Als sich William (Jimmi Simpson) mit seinem Freund/Kollegen Logan (Ben Barnes) auf den Weg in die Westworld macht, ist er sich nicht sicher, was ihn dort überhaupt erwartet. Unsicher tastet er sich durch lichtdurchfluteten Gänge, bis er sich schließlich in einem Salon wiederfindet und trotzdem noch nicht in dieser künstlichen Realität angekommen ist. „Are you real?“, fragt er nach einigem Zögern die Frau, die ihn in seine Umkleide führt, wo sämtliche Accessoires ausliegen, die er als Cowboy benötigt. „Well, if you can’t tell, does it matter?“, lautet die Antwort seines Gegenübers. Plötzlich ist sie da, die Möglichkeit der ultimativen Fantasie, doch William kann sie nicht ausleben.
Im Gegensatz zu Logan klammert er sich verzweifelt an die Regeln der echten Welt, entschuldigt sich bei Passanten und hilft sogar einem alten Mann aus dem Dreck, der sich selbst nicht aus der misslichen Lage befreien kann. In der Zwischenzeit fuchtelt Logan willkürlich mit seiner Pistole in der Gegend herum und zögert nicht, dem gleichen alten Mann etwas später eine Gabel durch die Hand zu rammen, als dieser ihm erneut auf die Nerven geht. Wo The Original noch die Illusion erweckte, die Westworld wäre prinzipiell auch ein familienfreundliches Ausflugsziel, kristallisiert sich spätestens in der zweiten Hälfte von Chestnut heraus, dass die ungefilterte Grausamkeit des Menschen das einzige ist, was diesen Freizeitpark am Leben hält.
Lediglich zwei Figuren scheinen, an eine größere Vision des Parks zu glauben, die nicht nur verdorbene Gelüste befriedigt oder sich als Quell des dystopischen Kapitalismus entpuppt. Zuerst wäre da der Man in Black, der seit 30 Jahren die Westworld besucht und keine Lust mehr am Töten und Vergewaltigen hat – als hätte er ein Gros dieses Spiels unlängst durchgespielt. Selbst diverse Bonuslevel haben jeglichen Reiz für ihn verloren. Er will nur noch eine Sache und die befindet sich tief im Herzen der Westworld: „It’s the maze, the deepest level of this game.“ Die Gänsehaut in solchen Momenten ist nach wie vor ungeheuerlich. Jonathan Nolan und Lisa Joy haben wahrhaftig ein Mysterium geschafften, das die Neugierde unerträglich macht.
Immer wieder offenbart sich die Größe des Parks und die Tatsache, dass wir Zuschauer sowie die meisten Gäste noch nicht einmal die Hälfte der gigantischen Anlage entdeckt haben. Selbst hinter den Kulissen entsteht regelmäßig der Eindruck, die meisten Westworld-Mitarbeiter wären sich noch nie über den Weg gelaufen. Zu riesig, zu komplex ist dieses Konstrukt. Ob überhaupt ein einziger Menschen existiert, der weiß, wie viele geheime Gänge unter der Prärie verlaufen? Vermutlich nicht. Trotzdem gibt es einen Mann, der sich in die verborgenen, düsteren Winkel des Systems traut: Dr. Robert Ford (Anthony Hopkins) – als würde er ein verlassenen U-Bahn-Gleis betreten, dessen Existenz längst in den Akten verloren gegangen ist.
Wo der Man in Black nur seine Beobachtungen über die Jahre feststellen kann („Real world is just chaos. It’s an accident. But in here, every detail adds up to something.“) ist Ford schon um einige Schritte weiter in seiner Erkenntnis. Wenngleich in verschiedenen Etagen der Geschäftsführung mittlerweile angenommen werden dürfte, der Westworld-Gründer habe das Schlachtfeld verlassen und verweilt still und leise im Schatten der von ihm beschworenen Ereignisse, verblüfft Ford selbst seine vertrautesten Mitarbeitern mit präziser Präsenz, als es etwa um die Integration einer neuen Storyline für die Besucher des Parks geht. Da kann der junge Narrative-Director Lee Sizemore (Simon Quarterman) noch so viel prahlen, Ford behält die Oberhand.
„The guests don’t return for the obvious things we do, the garish things. They come back because of the subtleties. The details. They come back because they discover something they imagine no one noticed before. Something they fall in love with. They’re not looking for a story that tells them who they are. They already know who they are. They’re here because they want a glimpse of who they could be.“
Selbst wenn Ford der Mann ist, mit dem alles (auch das Grauen) angefangen hat, fungiert er gewissermaßen als das letzte Etwas, das vom Gewissen der Westworld übrig geblieben ist. So abartig diese Welt da draußen beziehungsweise da drinnen ist: Ford hat noch lange nicht die Kontrolle über seine Schöpfung verloren, obgleich seine Faszination für den – durch den Fortschritt befeuerten – Lauf der Dinge beunruhigend ist. „Everything in this world is magic, except to the magician.“ Auf einmal läuten Glocken wo weit und breit keine Siedlung zu sehen ist. Die Kreation befindet sich im ständigen Fluss, kann variiert, verändert und angepasst werden. Doch wer ist man wirklich in dieser unbeständigen Welt, die per Fingerschnuppen ein Trauma auslöschen wie auslösen kann.
Anmerkungen am Rande:
- Schön, dass ihr wieder euren Weg hierher gefunden habt. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, alle Episoden von Westworld so beständig mit Recaps abzudecken, wie es mir bisher (also zwei Mal) gelungen ist. Vielleicht/hoffentlich lesen wir uns aber nächste Woche an gleicher Stelle wieder.
- Schon in der ersten Episode begeisterte die Variation von Paint it Black. In Chestnut begeistert nun ein Piano-Cover von Radioheads No Surprises. Dieses Mal zwar deutlich subtiler in Szene gesetzt – dafür ein perfekter Song für die melancholische Stimmung, die in Westworld bisher nur ganz selten durchgeblitzt ist.
- Selbst wenn Evan Rachel Wood und James Marsden ein paar wenige Szenen in Chestnut haben: Westworld will sich nicht auf eine zentrale Figur festlegen, sondern setzt auf die Dynamik des Ensembles. Das ist durchaus begrüßenswert – immerhin zehren die besten Dramaserien von The Wire über Orange Is the New Black bis hin zu Mad Men von den unglaublich vielen spannenden Figuren, die die jeweilige Serienwelt bevölkern.
- „Now that’s a fucking vacation!“
Westworld © HBO
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