Westworld wird unbequem. Nicht, dass die Serie jemals sonderlich bequem und für die leichte Sonntagsabendunterhaltung zuständig war. Dennoch bringt The Well-Tempered Clavier, die neunte Episode der ersten Staffel, die ungewissen Aspekte der Erzählung in verstörende Form zur Geltung. Entgegen dem Titel läuft hier gar nichts mehr nach wohltemperierten Maßstäben ab. Sämtliche Dinge, die in der ersten Staffelhälfte etabliert wurden und mittlerweile geradezu vertraut wirkten, brechen zunehmend auseinander. Die Enthüllung, dass Bernard (Jeffrey Wright) in Wahrheit ein Host und kein Mensch ist, dürfte der erste große Umbruch in Fords (Anthony Hopkins) Narrativ gewesen sein.
Eine Woche vor dem Finale kippen weitere Dominosteine, sodass am Ende nichts weiter als ein frustrierendes wie faszinierendes Schlachtfeld übrig bleibt. Immer wieder bahnt sich Michelle MacLarens Inszenierung ihren Weg nach oben, sucht die Übersicht und will das gesamte Bild preisgeben. Oftmals gelingt es der Kamera jedoch nicht, die Überhand zu gewinnen. Meistens bleibt sie in einem unteren Winkel gefangen und muss zu den Handelnden hinaufblicken. Wenn sie es dann schafft, ist der Anblick kein Verzogene schöner. Verzogene Perspektiven – auch von Seiten er Game-Master: Auf dem Weg in die Zielgerade macht es sich Westworld alles andere als einfach. Aber genau deswegen ist die Serie so großartig.
Dan Dietz und Katherine Lingenfelter zeichnen dieses Mal das Drehbuch verantwortlich. Es ist ein wilder Ritt durch den titelgebenden Themenpark, der munter zwischen Figuren, Schauplätzen und Zeitebenen springt, sodass es unter Umständen schwer fällt, den Überblick zu wahren. Bereits vergangene Woche etablierte Dolores‘ (Evan Rachel Wood) Handlungsstrang, dass die verschiedenen Geschichten im Rahmen unzuverlässiger Bilder gerne auch ineinander übergehen und verschmelzen. Ein krasser Gegensatz zur parallellaufenden siebten Staffel von The Walking Dead auf AMC: Dort beleuchten die Autoren in jedem neuen Kapitel lediglich einen kleinen Teil der Geschehnisse, als würden sie die Figuren unter der Lupe langsam mit einem Skalpell sezieren.
Dem entgegen liebt es Westworld, mit den gegebene Bällen so wild zu jonglieren, dass jeden Augenblick alle Bälle herunterfallen könnten. Wir als Zuschauer verfolgen dieses bewegungs- wie wendungsreiche Schauspiel gebannt, können unseren Blick gar nicht abwenden und, ja, sind vielleicht auch ganz neugierig, was denn nun passieren würde, sollte tatsächlich einer der Bälle aus der Bahn geworfen werden und die anderen zu Boden reißen. Im Grunde stellt The Well-Tempered Clavier exakt den Moment dar, an dem klar wird, dass der Künstler seine Darbietung nicht länger aufrechterhalten kann. Das Finale steht vor der Tür, die Bälle befinden sich im freien Fall.
In diesem Moment stellt sich allerdings auch etwas anderes heraus: So groß die Versuchung des Zusammenfalls sein mag – sobald er tatsächlich passiert, ist jegliche Neugier verschwunden. Denn dann zerbricht das Bild, der Kreis, der Traum. Dann ist es nur noch ein wirres Gemälde, in dem die Farben nicht länger eine elegante, virtuose Einheit bilden, sondern unangenehmes Durcheinander offenbaren. Als sich Jonathan Nolan und Lisa Joy das Konzept von Westworld ausgedacht haben, wussten sie jedoch sicher, dass dieses unschöne Ende unausweichlich ist und irgendwann die noch so verführerische Illusion der hässlichen Wahrheit Platz machen muss.
„If it’s such a wonderful place out there, why are you all clamoring to get in here?“, fragt Dolores und findet in keiner erdenklichen Welt das Glück, nachdem sie sich in diesem Moment sehnt. Westworld präsentiert in diesem kurzen Kommentar eine Seite der Geschichte, die bisher kaum angerührt wurde. In was für ein Chaos könnte die echte Welt da draußen gestürzt sein, dass sich die Menschen lieber in einem Sandkasten austoben, der einem unbarmherzigen Trümmerhaufen vermeintlich warmer Körper gleicht. „Your world was built for me“, so die blinde Annahme des Gasts, der immer noch nicht verstanden hat, dass er über Nacht Teil von etwas Größerem geworden ist, das seine Existenz bei Weitem überschattet.
Doch wohin führt Westworld jetzt genau, den kryptischen Kern des omnipräsenten wie ominösen Labyrinths außen vorgelassen? The Well-Tempered Clavier spricht sich sehr deutlich für die Vergangenheit aus, denn hier liegt der große Schmerz vergraben, der als ausschlaggebendes Element der gesamten Handlung fungiert. Ein Schmerz, der zum Trauma führt, das wiederum furchtbare Erinnerungen hervorruft. Erinnerungen, die – allen technologischen Errungenschaften zum Trotz – nicht gelöscht werden können, sondern felsenfester Bestandteil der zerbrechlichsten Konstante in Westworld werden: dem Bewusstsein. Fassungslos starrt Bernard Ford am Ende dieser Kette in die Augen.
Ähnlich fassungslos blickt Hector (Rodrigo Santoro) drein, als Maeve (Thandie Newton) vor seinen Augen einfach den Tresor öffnet, den er ein ganzes Leben lang jeden Tag aufs Neue zu öffnen versuchte. Seine vollständige Existenz liegt plötzlich vor ihm und wird binnen weniger Sekunden komplett auf den Kopf gestellt. Unendliche Bemühungen hat er investiert, alles vergebens. Maeve dreht ein paar Mal am Schloss und gewährt ihm im Anschluss einen Einblick in die finstere Leere, die hinter der schweren Tür schlummert. „I want you to see exactly what the gods have in store for you. Because when you do, you won’t have the faintest idea what to do with yourself.“ Nach diesem aufregenden Ritt bleibt nur zu hoffen, dass Jonathan Nolan und Lisa Joy nächste Woche wissen, was sie erwartet, wenn sie denn Tresor öffnen, sollten sie es überhaupt tun.
Westworld © HBO
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