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Gemini Man – Kritik

Bereits der einfache Blick in den Spiegel jagt Henry Brogen (Will Smith) einen eisigen Schauer über den Rücken. Egal wie viele Missionen der Attentäter des US-amerikanischen Geheimdiensts DIA erfolgreich durchgeführt hat: Sobald er sein alterndes Ebenbild erblickt, überkommt ihn ein unheimliches Gefühl, als würde er einer Person gegenüberstehen, die ihm gleichermaßen vertraut wie fremd ist. Der Ruhestand soll ihn vor dem endgültigen Kontrollverlust im Angesicht der gnadenlos vergehenden Zeit bewahren – doch ausgerechnet in diesem Augenblick wird ihm sein eigener, deutlich jüngerer Klon von Bösewicht Clayton Varris (Clive Owen) auf den Hals gehetzt.

Aufbauend auf dieser Prämisse entwickelt sich Gemini Man in eine atemlose Verfolgungsjagd über mehrere Kontinente und Verschwörungen hinweg. Henry befindet sich auf der Flucht, vor allem vor sich selbst, und Regisseur Ang Lee fängt dieses rastlose Gefühl mit einer wahrlich außergewöhnlichen Inszenierung ein. Nachdem er bereits im Zuge seines vielschichtigen Dramas Billy Lynn’s Long Halftime Walk mit 3D und erhöhter Bildrate experimentierte, setzt er in Gemini Man erneut auf 120 Bilder pro Sekunde, die nicht nur für eine unglaubliche Schärfe sorgen, sondern ebenfalls ein außergewöhnliches Gefühl für Geschwindigkeit und Bewegung mit sich bringen.

Die meisten Kinos werden Gemini Man zwar nur mit 60 Bildern pro Sekunde zeigen können, doch selbst diese Bildrate (üblich sind 24 Bilder pro Sekunde) besticht mit einer überwältigenden Rasanz, sodass man sich der Wucht des Films kaum entziehen kann. Ang Lee, der nie verlegen war, neue Techniken in seine Filme zu integrieren, erweist sich insbesondere dann als Meister seines Fachs, wenn er die Form mit der erzählten Geschichte verschwimmen lässt, wie es etwa bei Life of Pi und seinen eindrucksvollen 3D-Welten der Fall war. Auch in Gemini Man ist die Handschrift des Regisseurs eindeutig zu spüren – federleicht balanciert er packende Actionszenen.

Und von diesen Actionszenen hat Gemini Man einige zu bieten: Mit Motorrädern springen die Figuren über Dächer, wenn sie nicht gerade in furiosen Faustkämpfen aufeinandertreffen oder in Zeitlupe durch das Schussfeld ihrer Gegner hechten. Die Übersicht geht Ang Lee dabei keineswegs verloren, im Gegenteil: Sein Film strahlt selbst in den furiosesten Momenten eine verblüffende Nachdenklichkeit aus, die Henrys innere Zerrissenheit nach außen trägt. Beispielhaft dafür ist eine Szene, in der er sich mit seinem jungen, geradezu unsterblichen Ebenbild in einer Krypta vor den Knochen und Schädeln längst vergessener Generationen prügelt und sein Körper immer mehr Schrammen abbekommt.

Ganz nebenbei reiht sich Gemini Man damit auch als spannendes Werk in die Filmographie von Hauptdarsteller Will Smith, der erst vor wenigen Monaten mit Aladdin ein kleines Comeback feiern konnte. Inzwischen hat das Disney-Remake sogar Independence Day als erfolgreichsten Film des Hollywood-Stars verdrängt. Unter der Regie von Ang Lee findet sich Will Smith nun in einer ganz speziellen Situation wieder: Obwohl er es trotz diverser Flops in den vergangenen Jahren geschafft hat, eine eigene Marke zu bleiben, wird er in Gemini Man mit seiner digitalen Nachbildung konfrontiert, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als ihn aus dem Film zu drängen. 

Gleichzeitig reden wir hier von einem Ang Lee-Film – und die sind stets bedacht, sich nicht in Extremen zu verlieren. Somit sucht auch Will Smiths Henry verzweifelt nach einem anderen Weg, um den zentralen Konflikt zu lösen, der sich verkompliziert, sobald der Klon die entscheidenden Fragen gegenüber seinem Schöpfer und seiner Umwelt stellt. Selbst wenn das Drehbuch von David Benioff, Billy Ray und Darren Lemke in dieser Entwicklung ab einem gewissen Punkt an seine Grenzen stößt, verwandeln Ang Lees inszenatorische Fähigkeiten Gemini Man in einen der interessantesten Filme des Jahres, der sich bis zum Schluss eine willkommene Neugier für erfrischende Bilder bewahrt.

Bereits Ende der 1990er Jahre arbeitete Tony Scott an einer Umsetzung von Gemini Man. Mit dieser Version mag Ang Lees Film zwar nur noch bedingt etwas zu tun haben. Dennoch ist faszinierend, dass sich über zwei Dekaden später erneut ein Filmemacher gefunden hat, der Tony Scotts Vision teilt, Emotionen durch das Zusammenspiel verschiedener technischer Mittel im Kino heraufzubeschwören. Dann ist es nicht nur die räumliche Tiefe des sagenhaften 3D-Bildes, die einen in Gemini Man saugt, sondern ebenso der Blick in die Gesichter von Will Smith und Mary Elizabeth Winstead, die auf der Leinwand um ihr Leben rennen – auf der Flucht vor und der Suche nach Gefühlen.

Diese Kritik basiert auf Eindrücken aus der Berliner Pressevorführung, bei der Gemini Man in 3D und mit 60 Bildern pro Sekunde gezeigt wurde.

Gemini Man © Paramount Pictures