Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Inherent Vice – Kritik

Shasta. Plötzlich steht sie da, mitten im Zimmer. Davor war es ein unbeständiges Bild im Morgengrauen, das Robert Elswits Kamera offenbarte. Zwei Häuser am Strand, der symmetrische Blick perfekt durch die Mitte, im Hintergrund das Meer, den Horizont erahnend. Ein recht neutraler Blickwinkel für eine verworrene Odyssee durch die Stadt der Engel und trotzdem etabliert Paul Thomas Anderson bereits in dieser ersten Einstellung von Inherent Vice zwei riesige Wände, links und rechts, nahezu unüberwindbar. Dazwischen befindet sich Doc Sportello (Joaquin Phoenix), jener verplanter Zeitgenosse, der in Kürze Shastas Fay Hepworth (Katerhine Waterston) Gesicht erblickt und sie für eine Halluzination halten wird, bis er sich ihrer tatsächlichen Gegenwart nicht mehr entziehen kann. Eingeengt von Wänden befindet er sich in einer kleinen Nussschale am Strand, kann unmöglich entkommen und bewegt sich dennoch so frei wie ein Vogel in dieser Welt. Einer Welt, in der nichts richtig komisch, aber auch nichts absolut gewöhnlich ist. Höchstens ein bisschen absonderlich scheint es hier, wenn sich die Menschen von ihrem animalischen Trieb überwältigen lassen und einfach so in den Tag hineinleben. Ein paradiesischer Idealzustand, so sorglos und dennoch überhäuft von Problemen. Und Doc nimmt sich einem nach dem anderen an, um sie zu lösen.

Doch dann ist da Shasta, als wäre sie ein Engel im Traum, der ein Gefühl von Paranoia verbreitet, das nicht einmal Jonny Greenwoods melancholischer Score – so sehr er ins nächtlichen Labyrinth der Täuschung entführt – nicht mehr verschleiern kann. Paranoia und am Ende eine Träne verlorener Erinnerung, vom Wellenrauschen in weiter Ferne umhüllt. Es bleibt Joanna Newsome verzaubernder Stimme überlassen, das Folgende in Worte zu fassen. Wenngleich wir ihre mysteriöse Sortilège nie kennenlernen (im Voraus wurde sie als „earth-goddess-like“ umschrieben) entführt ihre Narration vertrauensvoll in einem absonderlichen Mikrokosmos voller Menschen, die im Kreis rennen und dem jeweils anderen hinterherjagen. Ein Verwirrspiel ohne konkretes Ziel, ausschließlich gelenkt von der schwammigen Vorstellung einer Konstante, die diese Welt zusammenhält. Zum Schluss mag diese Konstante der schlichte Austausch von tonnenweise Heroin gegen einen Owen Wilson sein. Doch er würde dieses Angebot ablehnen? Immerhin geht es hier ums Geschäft, in diesem verschlüsselten Film noir, der sich nur selten in den dichten Nebel einer ungeheuren sowie geheimnisvollen Umgebung wagt.

Einmal begegnet Doc dem von Owen Wilson verkörperten Coy Harlingen im Dunst der Nacht, wo nur eine Laterne das wahre Antlitz ihrer Gesichter offenbaren mag und der glühende Stummel einer Zigarette über das gesprochene Wort hinwegtäuschen soll. Denn genau in diesem Augenblick ist die Paranoia, die Doc von Anfang an verfolgt, ein übermäßig präsenter Begleiteter, der unbedarft am Wegesrand steht, hinter einer Ecke lauert und sich trotzdem nie blicken lässt. Zweifelsohne ist der Austausch zwischen den genannten Figuren nur ein kleiner Brotkrumen im große Verwirrspiel Inherent Vice, im großen Labyrinth, in das Paul Thomas Anderson mit unheimlicher Präzision entführt und gleichzeitig einen unkonzentrierten Gedankenfluss heraufbeschwört, der es geradezu unmöglich macht, aufmerksam dem Geschehen zu folgen. Immer wieder ereignet sich jener Moment vom Beginn des Films in unterschiedlicher Variation: Erwachen und nicht wissen, was echt ist. Gefangen in der Nussschale ergibt das lakonische Tohuwabohu allerdings bis in seine letzte Überlegung reichlich Sinn – für Doc und das übrige Figurenkabinett. Sie alle stammen aus dem Kopf von Thomas Pynchon und erstrecken sich von Cartoon-esken Karikaturen über unscheinbare Gefährten bis hin zu unvergesslichen Begegnungen.

So merkwürdig und seltsam wie zuletzt erwähnten Begegnungen vonstattengehen: Paul Thomas Anderson folgt seinen Figuren auf Schritt und Tritt, taucht in ihre Gespräche ein und verliert sich darin – genauso wie Doc, der hochkonzentriert in die entlegensten Winkel der 1970er Jahre abdriftet. Ab einem gewissen Punkt hat sich Inherent Vice in eine undurchschaubare Bestie verwandelt, deren Abschweifungen zum undurchsichtig surrealen Puzzlespiel avancieren. Der einzige, der dieses Spiel auch nur im Ansatz versteht, ist Doc. Im Rausch gleitet er binnen weniger Sekunden in seine Vergangenheit, wird von poetischen Regen und der Absperrung einer Baustelle erwartet – nur, um kurz darauf die Hässlichkeit der Gegenwart im Rahmen eines aberwitzigen Drogen-Trips zu erfahren. Ob dem tollpatschige Stolpern irgendwann im Happy End in Glanz der untergehenden Sonne gegönnt ist? „Of course not.“ Dafür bleibt die Halluzination, die Illusion, die Paranoia. Ein ewiger Wegbegleiter und dann ist da wieder Shasta, ebenso die ruhige Einstellung nach einer Sommernacht zwischen zwei Häuser hindurch, die sich zuvor mit Menschen gefüllt hat, aber jetzt wieder von unfassbarer Leere zeugt. (What A) Wonderful World.

Inherent Vice © Warner Bros.