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Okja – Kritik

Wir schreiben das Filmjahr 2017. Superhelden und anderweitige Franchise-Heroen haben das Geschehen auf der großen Leinwand übernommen. Eine Entwicklung, die mittlerweile synonym für eine kreative Bankrotterklärung des Blockbuster-Kinos und dem ewigen Kreislauf des immer Gleichen in Hollywood steht. Es fällt viel zu leicht, ein negatives Bild der Gegenwärtigen Filmlandschaft zu entwerfen und dennoch ist es bemerkenswert, dass einer der aufregendsten Filme des Jahres aus dem Hause Netflix stammt. Hat sich der US-amerikanische Streaminganbieter mit seinen Originalserien in den vergangenen Jahren als bestimmende Größe im Geschäft etabliert, finden sich die eigenproduzierten Filme aktuell noch in einer merkwürdigen Blase wieder, die zwischen vielversprechender Ambition und liebloser Content-Abdeckung schwankt. Okja, das neue Werk des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho, durchbricht trotzdem all diese Label und offenbart sich als mitreißender Triumph – vielleicht auch deswegen, weil sich der Film von seinen Produktionsumständen keineswegs einschüchtern lässt, sondern schlicht lebendiges Kino schafft.

Bong Joon-ho, der nach seinem verschneiten Endzeitepos Snowpiercer erneut mit einem internationalen wie diversen Ensemble zusammenarbeitet, zeigt sich sichtlich unbeeindruckt von den kreativen Freiheiten, die Filmemacher oftmals in Zusammenarbeit mit Netflix so unreflektiert in den Vordergrund rücken, als wäre es eine obligatorische Aussagen, die es zu treffen gilt, um das mythische Netflix-Narrativ zu befeuern. Stattdessen macht Bong Joon-ho dort weiter, wo er mit seinem letzten Film aufgehört hat und verliert sich erneut in einem abgefahrenen Abenteuer, das so leichtfüßig wie elegant zwischen verschiedenen Genres balanciert, mit gesellschaftskritischen Themen verschmilzt und am Ende eine Geschichte erzählt, die sich ihren emotionalen Einschlag wahrlich verdient hat. Wenngleich sich Okja alleine durch die deutliche Dreiaktstruktur in einem konventionellen Rahmen bewegt, bringt der Film eine ansteckende Begeisterung und Frische mit, der alleine aufgrund der hingebungsvollen Umsetzung zu Tränen rührt – von der berührenden Erzählung, die über eine Laufzeit von knapp zwei Stunden hervorragend reifen kann, ganz zu schweigen.

Zuerst ist da bloß das junge Mädchen Mija (Ahn Seo-hyeon), die zusammen mit Okja, einem sogenannten Super Pig, vor idyllischer Kulisse aufwächst, als hätten E.T. und Totoro einen Nachfolger im Geiste gefunden. Doch schon bald meldet sich der multinationale Konzern Mirando Corporation zu Wort, der seine Erfindung gerne wieder zurückhaben möchte und Okja schließlich gewaltvoll voll aus dem unberührten Paradies entführt. Auf keinen Fall will Mija das geliebte Tier gehen lassen und begibt sich daraufhin auf eine gefahrenvollen Odyssee, die schließlich in einem packenden Finale in New York City ihren schmerzlichen Höhepunkt findet. Bong Joon-ho, der mit Jon Ronson das Drehbuch entwickelte, erschafft dabei eine Welt, die von Minute zu Minute größer und faszinierender wird. Bereits in Snowpiercer war eine solche Reise sehr anschaulich zu erleben, als die unterdrückten Menschen aus den hinteren Abteilen, mit jedem Wagon, den sie eroberten, eine noch verblüffendere Umgebung als die vorherige entdeckten. Okja folgt einem ähnlichen Muster auf globaler Ebene und funktioniert vor allem deswegen so gut, weil wirklich jeder Wegbegleiter auf diesem Trip in lebhafter Erinnerung bleibt.

Selbst ein einfacher Lastwagenfahrer, der in den meisten Filmen dieser Art völlig gesichtslos bleibt und somit für alle Beteiligten austauschbar ist, erhält hier sein Profil, darf gegen den ausbeuterischen Arbeitgeber rebellieren und sein eigenes, kleines sowie auf den ersten Blick verwunderliches Statement abgeben, das bis in die Chefetagen irritiert, weil niemand damit gerechnet hat, dass ein solch nebensächlicher Charakter eines Tages seine Stimme erhebt.  Okja überrascht mit einer Vielzahl solcher beiläufigen Szenen, die sich zwar nur am Rande der zentralen Geschehnisse ereignen, dafür aber umso präzisere Akzente setzen. Dass all diese Figuren überaus eigenwillig gezeichnet sind, liegt auf der Hand. Bong Joon-ho setzt – insbesondere auch im Hinblick auf seine Botschaft gegen Massentierhaltung – alles andere als auf subtile Töne. Okja ist in einzelnen Passagen dermaßen überdreht, dass der Wechsel zwischen zerbrechlichem Coming-of-Age und bitterböser Satire zu plötzlich passiert. Gleichzeitig beschert dieser Freiraum unter anderem Tilda Swinton, Jake Gyllenhaal und Paul Dano die Möglichkeit, ihr Schauspiel in allen Extremen auszuleben.

Bei all diesen überspitzten Karikaturen ist es dennoch bemerkenswert, dass Okja nie seinen Fokus und sein Herz vergisst. Mija und ihr bester Freund sind Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, völlig egal, wie oft sich ein verplantes Team an Öko-Terroristen in den Mittelpunkt spielt oder die erschreckenden Machenschaften von Mirando Corporation das Gezeigte übernehmen. Ähnlich wie Bong Joon-ho in The Host seine junge Protagonistin mit einem überlebensgroßen Monster hat kollidieren lassen, kämpft in Okja das kleine Mädchen nun gemeinsam mit dem überlebensgroßen Monster gegen die grausame Welt der Erwachsenen, die von Lügen, Intrigen und Manipulationen bestimmt wird. So hingebungsvoll Okja die Strukturen einer scheinheiligen Welt entlarvt, zum Schluss dominiert eine aufrichtige Haltung, die den angedeutet Zynismus, der sich hinter intransparenten Glasbauten versteckt, vergessen und das Gute gewinnen lässt. Bong Joon-ho erzählt schon seit Beginn seiner Karriere von Abgründen. Die Hoffnung, die in solchen Fällen oft übergangen wird, hat er jedoch nie verloren. Auch Okja strahlt davon sehr viel aus – und das macht den Film so wertvoll.

Okja © Netflix