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The Florida Project – Kritik

Ein verstecktes Königreich unter dem Regenbogen: Das Magic Castle in The Florida Project scheint jeden Traum vom Märchenland zu erfüllen. Getaucht in sattes Lila ragt das Schloss aus dem grünen Boden ins ewige Blau des Himmels, während strahlend die Sonne auf- und untergeht, nie nie verlegen, die Landschaft in ihr magisches Licht zu hüllen. Ein Idyll vor den Toren des Walt Disney World Resort in Orlando – und dennoch findet Sean Baker in seinem jüngsten Werk wenig von dem unbeschwerten Gefühl eines Disney-Märchens, das trotz fieser Hürden zuversichtlich auf ein Happy End zusteuert, sodass sich Prinzessin und Prinz in die Arme fallen können, ehe der lang ersehnte Kuss in den Abspann überleitet. Stattdessen offenbart sich das Magic Castle als 35-Dollar-Motel, das zwar Erinnerungen an eine heile Welt weckt, in Wahrheit jedoch längst als trostlosen Bestandsaufnahme eines heruntergekommenes Amerikas fungiert.

Keine der wundervollen 35-mm-Aufnahmen kann über den traurigen, deprimierenden Hintergrund von The Florida Project hinwegtäuschen. Trotzdem widmet Sean Baker seine Aufmerksamkeit vorerst dem Leben in all seiner Vielfalt und Schönheit, wobei ihn vor allem die impulsartige Dynamik des natürlichen Treibens nicht mehr loslässt. Anstelle sich im fachmännischen Tonfall einer Sozialstudie zu verlieren, die bestürzen soll und am Ende bevormundend über dem Elend richtet, das es zwanghaft zu korrigieren gilt, nähert sich Sean Baker mit Co-Autor Chris Bergoch seinen Figuren mit selbstloser Natürlichkeit an und räumt etwaige Vorurteile aus dem Weg. Sein Interesse gilt den Menschen, die im zerfallenen Königreich ihr Lager aufgeschlagen haben, ihre gesamte Existenz auf nur wenige Quadraten verteilen und nicht dem Wochenzyklus von sieben Tagen, sondern jenem der nächsten Mietabrechnung gehörig geworden sind.

Zu diesen Schlossbewohnern gehört auch die junge Mutter Halley (Bria Vinaite), die gemeinsam mit ihrer sechsjährigen Tochter Moonee (Brooklynn Prince) in einem winzigen Apartment des Magic Castle lebt und den gesellschaftlichen Konventionen nur wenig Begeisterung entgegenbringen kann. Im Tonfall genauso frech wie direkt adressiert sie ihre Umgebung stets zwischen absoluter Frustration und hemmungsloser Lebensfreude – als Zuschauer werden wir in Florida Project Zeugen einer unglaublichen Energie, die an den unwahrscheinlichsten Orten und den unwahrscheinlichsten Momenten zutage tritt. Sean Baker, der zuletzt mitreißend durch die glühenden Straßen von Los Angeles an Heiligabend führte, hat nichts von seiner verblüffenden Beobachtungsgabe verloren, die sich nicht aufdrängt, sondern respektvoll und einfühlsam in die vielen unterschiedlichen Situationen hineinversetzt und das Individuum als solches unmittelbar wahrnimmt.

Fortan folgt The Florida Project überwiegend den aufregenden Abenteuern, die Moonnee zusammen mit ihren Freunden Scooty (Christopher Rivera), Dicky (Aiden Malik), and Jancey (Valeria Cotto) erlebt, obgleich manchmal die Langweile auf dem brennenden Asphalt als Tageshighlight herhalten muss. Dennoch lässt sich der Film von der unermüdlichen Begeisterung der Kinder anstecken und starrt plötzlich ebenso gebannt den eingangs erwähnten Regenbogen an, wie er in einer Waffel Eis das größte Glück der Welt entdeckt. Triefende Emotionen in unerträglich ausbeuterischer Ausführung bleiben The Florida Project glücklicherweise erspart. Zwar werden die Gefühle hier ganz groß geschrieben, allerdings fußen sie fortwährend auf einem unvergleichlichen Fundament der Aufrichtigkeit, das mit – geradezu erschreckender Selbstverständlichkeit – an die bröckelte Tapete in den Apartments des Motels und schlussendlich auch an die bröckelnde Fassade dieses Sommertraums erinnert.

Im Schatten des Feuerwerks, das in weiter Ferne die Gäste im Walt Disney World Resort unterhalten soll, öffnet Sean Baker das Tor in eine oftmals verborgene und ebenso oft vergessene Welt des Amerikas der Gegenwart. Wer hineinblickt, wird vor Hässlichkeit erschaudern und trotzdem Trost im abgebrannten Märchenland erfahren, etwa in Form von Willem Dafoe, der als Motel-Manager Bobby Hicks genauso pragmatisch, ehrlich wie hingebungsvoll durch diesen Mikrokosmos an Enttäuschungen und Ausreden steuert. Es lässt sich kaum in Worte fassen, welch ein Ruhepol seine Erscheinung in der selbst hoffnungslosesten Situation bildet, wenngleich auch er keine magische Fee ist, die spektakulär wie der Gott aus der Maschine rechtzeitig das erlösende Happy End beschwört. Weder uns Zuschauern noch den Figuren kann Willem Dafoe die Last des Lebens von den Schultern nehmen. Dass er sich jedoch sorgt und Dinge repariert, macht ihn zum wertvollen wie aufmerksamen Weggefährten, wie er alles andere als selbstverständlich ist.

Wenn ab einem gewissen Punkt die verheerende – und durchaus absehbare – Kettenreaktion in Gang tritt und ein verhängnisvolles Ereignis nach dem anderen triggert, besteht Sean Baker auf die Hoffnung und lässt jeglichen Zynismus für einen kurzen Augenblick an unverschämter Naivität zerschellen. So bemerkenswert The Florida Project die gesamte Zeit über den Ernst der Lage auf einer hintergründigen Ebene mitschwingen lässt, explodiert der Film zum Schluss in einem der effektivsten Stilbrüche, der in den vergangenen Jahren im Kino zu sehen war. Im Moment der größten Not beginnt The Florida Project sprichwörtlich über die Leinwand zu fliegen und überwindet mit seinen kindlichen, unerschrockenen Heldinnen jeden Schlossgraben und jede Verteidigungslinie. Ein unvergesslicher Funkenflug an Gefühlen, denen nach dem analogen Vorlauf gekonnt im Digitalen verschwimmen und zumindest für den Bruchteil einer Sekunde Einblick in jenes Königreich am Ende des Regenbogen gewähren.

The Florida Project © Prokino