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The Matrix: Wie der Score von Don Davis die Realität verbiegt

Ein Löffel, der sich verbiegt, während sich Neos (Keanu Reeves) Antlitz darin spiegelt: Es ist eines der bekanntesten Bilder aus The Matrix, jenem bahnbrechenden Science-Fiction-Film, der Lana und Lilly Wachowski vor über zwei Dekaden ihren Durchbruch verschaffte. Existenzphilosophische Fragen vereinen sich mit atemberaubenden Spezialeffekten, deren Einfluss bis heute im Blockbuster-Kino zu erkennen ist, von furioser Action und einem unverwechselbaren Look ganz zu schweigen. Doch dann ist da noch etwas, ohne das der Anblick des Löffels nicht komplett wäre, oft jedoch vergessen wird, wenn es um das Vermächtnis von The Matrix in der Filmgeschichte geht: die Musik.

Ikonisch ist zwar die Szene, wenn sich Neo und Trinity (Carrie-Anne Moss) zu Spybreak! von dem Elektro-Duo Propellherheads durch die Eingangshalle eines Hochhauses schießen. Doch gemeint ist hier weniger der Einsatz von Source Music als die beispiellose Verwendung des eigens für den Film komponierte Scores von Don Davis, der später auch für The Matrix Reloaded und The Matrix Revolutions zurückkehrte. Entgegen der virtuellen Welt, in die uns der Film entführt, setzten die Wachowskis auf die geballte Kraft eines Orchesters, um die Matrix zum Leben zu erwecken. Ein faszinierender Kontrast – und eines der aufregendsten Wagnisse der jüngeren Filmmusik, denn Don Davis ist keineswegs an konventionellen Klängen interessiert.

Ein Orchester trotzt der digitalen Matrix-Welt

Während etwa die von den Wachowskis im Live-Action-Bereich salonfähig gemachte Bullet Time inzwischen zum festen Bestandteil eines jeden großen Actionfilms geworden ist, hat die Musik der Matrix-Filme nur wenige Nachahmer gefunden. Don Davis‘ Kompositionen sind auf den ersten Blick alles andere als gemütlich, im Gegenteil: Ein aufwirbelndes, erschütterndes Spiel von Dissonanzen und Clustern, die bemerkenswert mit dem Sounddesign des Films verschmelzen und kaum definierbar sind. Klassische Leitmotive lassen sich nur schwer in The Matrix ausmachen, trotzdem entstehen unverkennbare Figuren in der Musik, die wie die coolen Sonnenbrillen, die schwarzen Anzüge und die phänomenalen Zeitlupen zur DNA der Filmreihe gehören.

Das bekannteste Motiv ist wohl der einleitende Dreiklang, der gleich zu Beginn von The Matrix ertönt, wenn wir zum ersten Mal den grün aufleuchtenden digitalen Regen beobachten, der verschlüsselt von der Welt berichtet, die im Anschluss enthüllt und in ihre Einzelteile zerlegt wird. Zuerst sind da Hörner zu vernehmen, die lautstark jenen markanten Dreiklang vorgeben, ehe eine Gruppe Trompeten mit dem gleichen Akkord in einer anderen Tonart und höheren Lage antwortet und immer lauter wird, bis die Hörner verschwunden sind. Durch diese Polytonalität kommt ein Gefälle und eine Gleichzeitigkeit zum Ausdruck, wie sie sich auch in der Handlung des Films wiederfindet, wenn unterschiedliche Dinge ineinander übergehen und wieder auseinanderdriften.

Don Davis arbeitet hier intensiv mit Techniken, die dem musikalischen Post-Minimalismus angehören. Aufbauend von dem Minimalismus von Komponisten wie Philip Glass, Steve Reich und Michael Nyman setzt sich der Score von The Matrix nicht nur aus sich wiederholenden Pattern zusammen, die im Lauf der Zeit variiert und entwickelt werden, sondern ist ebenso daran interessiert, Grenzen zu überschreiten. Im Post-Minimalismus gibt es keine Regeln mehr. Stattdessen geht es darum, die Musik so zu biegen und zu dehnen, wie auch die Matrix im Film das Verständnis von Realität auf den Kopf stellt. Plötzlich wacht Neo auf und kann sich auf keine der Wahrheiten verlassen, die ihn bisher gestützt, letzten Endes aber auch eingesperrt haben.

Auf den Spuren von John Adams in der Maschinenwelt

Maßgeblich beeinflusst wurde Don Davis bei seiner Arbeit an der Matrix-Trilogie dabei von John Adams, einem der wegweisenden Vertreter des Post-Minimalismus. Besonders das dreisätzige Orchesterwerk Harmonielehre und das Stück Short Ride in a Fast Machine schweben als Vorbilder über der The Matrix und den Fortsetzungen. Schlussendlich errichtet Don Davis auf dem Fundament von John Adams aber ein eigenes Werk, das noch viel stärker den Möglichkeiten und Aufgaben der Filmmusik verschrieben ist und in den atonalen Experimenten etwas unheimlich Bedrohliches und Düsteres entdeckt, als würde er direkt in den Maschinenkörper hinabsteigen, der die Matrix wie ein riesiges, komplexes System am Laufen hält.

Unermüdlich rast und stampft die Musik und offenbart dadurch die dreckige Welt hinter den glatten Programmen, bevor ein dissonanter Klangteppich zum Ausdruck der Gefühle wird, die Neo durchlebt, wenn er aus seinem ewigen Schlaf im Herzen der Maschinenstadt gerissen wird. Ein Heulen breitet sich daraufhin auf musikalischer Ebene aus, als hätten sich die Cluster von György Ligeti nach der Ankunft des Monolithen aus 2001: A Space Odyssee in die Postapokalypse von The Matrix verirrt. Don Davis weiß diese plötzliche sowie aufwühlende Orientierungslosigkeit geschickt zu nutzen, um die Matrix förmlich aufzusprengen, ehe er sich mit seinen polytonalen Stücken wieder auf die Veränderungen und Verzerrungen der Geschichte fokussiert.

Wenn die Musik mit der Geschichte verschmilzt

The Matrix ist ein Film, der durch und durch von Bewegungen zeugt, nicht nur in den Actionszenen, sondern in allen Aspekten – also auch in der Filmmusik. Geradezu schwindelerregend gestaltet sich die musikalische Reise in die Untiefen des Kaninchenbaus, der eine neue Wahrheit verspricht, aber ebenso viele Zweifel mit sich bringt. Don Davis schickt seine Blechbläser auf Kollisionskurs mit dem Unbekannten, während er beständig den Rhythmus verändert und dadurch nicht nur ein Hämmern und Rattern heraufbeschwört, sondern ebenso ein Pulsieren, das noch einmal betont, wie extrem sich die verschiedenen Realitäten in The Matrix dehnen und biegen lassen. Die Filmmusik entpuppt sich somit als Verlängerung der thematischen Motive des Films.

Don Davis hat mit seinem Score ein mehr als ebenbürtiges musikalisches Äquivalent zu der filmischen Vision der Wachowskis geschaffen. Sobald in The Matrix seine Musik erklingt, verbiegt sich nicht der Löffel, sondern die ganze Welt um ihn herum verändert sich. Kaum zu fassen sind die vielen kleinen Details, die sich hier in Bewegung befinden, neu ordnen und ein unvergleichliches Erlebnis von Veränderung schaffen. Dann verwandelt sich auch der digitalen Regen in einen Tanz und der kryptische Code bringt ein wunderschönes Gemälde zum Vorschein, in dem alles möglich ist. Aus der Musik, die anfangs als einer von zahlreichen Spiegeln fungiert, wird eine eigene Perspektive auf den Film, durchdrungen von der Wahrhaftigkeit eines Orchesters und der Ungewissheit des Post-Mimimalismus.

The Matrix © Warner Bros.