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Vor der Morgenröte – Kritik

Irgendwann steht er einfach da, halb versteckt im Grün und liest eine Zeitung: Stefan Zweig, bravourös verkörpert von Josef Hader, versinkt in der Geschichte, die um ihn herum passiert. Dabei ist Geschichte das, was in Vor der Morgenröte nur ganz beiläufig und im Off stattfindet. Natürlich hängt der Schatten des Dritten Reichs wie eine düstere Wolke über den – in sechs Segmente aufgeteilten – Geschehnissen des Films, Regisseurin Maria Schrader bleibt der konkreten Darstellung des Terrors jedoch gänzlich fern.

Es braucht keine der obligatorischen Aufnahmen von Angst und Schrecken, die sich an altbekannten Motiven abarbeiten und nicht mehr als eine verblassende Montage des Grauens gleichen. Die Geschichte ist viel komplexer und daher auch viel schwieriger in einer kurzen Szenenabfolge einzufangen, wenn es nicht gerade um die Illustration orientierender Stichpunkten geht. Und genau deswegen versucht Maria Schrader gar nicht erst, am Offensichtlichen zu scheitern. Nein, ihr Weg ist entscheidend klüger, vielschichtiger und verweigert sich zudem bewusst der öden Vergangenheitsbewältigung, wie sie das deutsche Kino mit quälender Hartnäckigkeit seit Jahren dominiert.

Vor der Morgenröte ist ein lebendiger, regelrecht sprudelnder Film, der sich bescheiden und in Ruhe mit dem großen Dilemma seiner Zeit und seines Protagonisten auseinandersetzt. Stefan Zweig erschrickt geradezu, als er aus der Welt geflüchtet ist und dennoch von jemanden (sogar aus der Ferne!) erkannt wird, der nun begeistert seinen Namen durch Gegend ruft. Die gedruckten Zeilen jenes Tagesblatts, in das sich der Schriftsteller vertiefte, können weder Geschichte schaffen, noch Geschichte fassen, denn Geschichte findet exakt in diesem Augenblick statt, allerdings in unbegreiflicher Form. Dass er selbst nur ein winziger Bestandteil im gigantischen Geflecht ist, stellt Stefan Zweig bereits ziemlich früh gegenüber einer Runde Journalisten fest.

Von einem freien Europa ist zu diesem Zeitpunkt die Rede, das keine Utopie, sondern Wirklichkeit ist – wenngleich es keiner der Anwesenden im Raum je erleben wird. Die Hoffnung des Moments ist unfassbar, das Eingeständnis an die Vergänglichkeit vernichtend. Man will es nicht wahrhaben und man will es wahrhaben – nie lagen Macht und Ohnmacht näher beieinander, gerade in einer Situation wie dieser. Wann er denn endlich Stellung bezieht zu den Machenschaften der Nazis wollen die Fragenden wissen, doch Stefan Zweig verwehrt ihnen eine zufriedenstellende Antwort. Generell bleibt die Furcht vor der Festlegung ein wiederkehrendes Motiv in Vor der Morgenröte und so spielt sich die Flucht ins Exil ständig auf mehreren Ebenen ab.

Der Schluss ist schnell gezogen: Das Genie ist in Wahrheit bloß feige, entzieht sich der Wahrheit und lebt auf einer Insel. Dass diese Insel allerdings unlängst unter Wasser steht, weiß der Film ebenfalls im gleichen Atemzug zu erwähnen – stellvertretend für all die spannenden Diskurse, die Maria Schrader und Co-Autorin Jan Schomburg geschickt und spielerisch ins Drehbuch integriert haben. Vor der Morgenröte bewahrt sich dabei stets eine erhabene, aufrichtige Leichtigkeit, die genauso tiefgründig durch die Tropen schreitet, wie sie der Kälte im New York der frühen 1940er Jahre trotzt. Sehr viel Feingefühl auf sämtlichen Ebenen: Alleine vereinzelte Akzente im Schnitt verwandeln Vor der Morgenröte in zutiefst ansprechendes Unterfangen.

Es ist nicht selbstverständlich, dass Maria Schrader auf eine dermaßen schlichte, aber irgendwie auch elegante bis genussvolle Inszenierung zurückgreift und dank Spielereien, die zu Raffinessen werden, auch noch wahnsinnig davon profitiert. Am Ende offenbart sich in einer Einstellung, die anfangs noch ganz „leer“ ist, die gesamte (Welt-)Geschichte. Immer größer wird der (filmische) Raum und selbst das kleinste Detail, das zuvor völlig unerkannt seinen Weg in den Film gefunden hat, erhält eine abschließende Erwähnung, obgleich diese nicht ausgesprochen wird. Dann lösen sich all die nachdenklichen Untertöne in Begeisterung auf, denn Vor der Morgenröte ist ein absoluter Triumph – und das, ohne stolz und aufdringlich zu sein.

Vor der Morgenröte © X-Verleih