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120 Beats Per Minute – Kritik

Wie Aufmerksamkeit erlangen, wenn die Gesellschaft ihren Blick abgewendet hat? Diese Frage beschäftigt die französische Aktivistengruppe ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power) Anfang der 1990er Jahre intensiv – immerhin geht es um das Leben zahlreicher Menschen, die unmittelbar von der AIDS-Epidemie betroffen sind, ohne gehört zu werden. Die Regierung ignoriert die offenkundigen Probleme, anstelle sich der sexuelle Aufklärung zuzuwenden, während die Pharmaindustrie bei der Entwicklung neuer Medikamente bloß auf eine Sache bedacht ist: den eigenen Profit. Es ist kaum auszuhalten, dieses demonstrative Weggesehen, doch wie weit darf gegangen werden, um dagegen anzukämpfen? 120 Beats Per Minute aka 120 BPM, der diesjähriges Cannes-Beitrag von Regisseur Robin Campillos, schlägt sich ganz auf Seiten der Aktivisten. Eine einfache Lösung auf die zentrale Fragestellung findet er allerdings nicht.

Nicht lange dauert es, bis das Blut spritzt. Zwar handelt es sich nur um Kunstblut, doch die gewollte Wirkung tritt ein, wenn einzelne Mitglieder von ACT UP in den Räumen von Melton Pharma für Unordnung sorgen. Wo eben noch feine Frauen und Herren in Anzügen standen, offenbart sich nun ein verstörendes Bild von Aufruhr und Chaos. Die Provokation ist gelungen. Sogleich stellt Robin Campillo, der damals selbst im Kampf für die Rechte der LGBTQ-Gemeinde aktiv war, aber die Zweifel innerhalb der eigenen Reihen in den Mittelpunkt. Sind wir dieses Mal zu weit gegangen? Oder hätte es noch drastischere Mittel erfordert, um endlich einen Durchbruch zu erlangen? Auf Seiten derer, die gegen die Ungerechtigkeit ankämpfen, beschäftigt sich 120 Beats Per Minute intensiv mit dem anstrengenden Zwiespalt, der mit dem Zuge der Revolution einhergeht. Jede Handlung will gut überlegt sein, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen.

Im Gegensatz zu den mitunter reißerischen Aktionen von ACT UP findet Robin Campillo eine überraschend ausgeglichene, langsame Sprache für seinen Film, der durchaus den Funken transportiert, um die Welt zu verändern, sich im Fortschreiten der Laufzeit aber vorzugsweise in stillen Momenten verliert. Ekstatische Szenen der Gemeinschaft entstehen stets aus der Ruhe vor dem Sturm, bis zum Schluss die Intimität der Einzelschicksale in den Vordergrund rückt. Dann legt sich eine ungewisse Dunkelheit über die Bilder und es beginnt das große Warten auf das unabwendbare Ende. Symbolische Einstellungen reihen sich an die Aufnahmen von Sorgen geplagter Gesichter: 120 Beats Per Minute lässt den Figuren allen Raum zur Entfaltung, vertieft sich in ihre Gespräche und vermittelt ein Gefühl für die beklemmende Situation, aus der es kein Entkommen gibt; die quälend schmerzliche Seite dieser Geschichte.

Bei all der menschlichen Zerbrechlichkeit spart sich 120 Beats Per Minute die wirklich eindringlichen Augenblicke bis zum letzten Akt auf. Rückwirkend wirken die vorherigen Ereignisse dadurch jedoch wie ein theoretischer Vorlauf, der sich zu viel Zeit gelassen hat, um zum Punkt zu kommen. Gleichzeitig gibt es in Anbetracht der spaltenden Geschehnisse keinen konkreten Punkt, der markiert werden könnte. So ist es das größte Vermächtnis von 120 Beats Per Minuten, in den Prozess einzusteigen und sich mit diesem auseinanderzusetzen, sowohl im Fall des Scheiterns als auch im Fall des Erfolgs. „Bin ich dir nicht krank genug?“, heißt es später, wenn die Verzweiflung Überhand gewinnt und die Lage aussichtslos erscheint. Verklärte Helden gibt es in Robin Campillos Film trotz solch erschütternder Ansprachen keine, sondern nur ganz normale Menschen, die für das kämpfen, was selbstverständlich sein sollte, und daran zerbrechen.

120 Beats Per Minute © Edition Salzgeber