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22 July – Kritik

Sieben Jahre sind vergangen, seitdem der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik in der Innenstadt von Oslo eine Autobombe gezündet und kurz darauf ein Massaker auf der Insel Utøya an Teilnehmern eines Feriencamps der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet angerichtet hat. Nun erwarten uns gleich zwei Filme über die schockierenden Ereignisse. Auf der einen Seite wäre da die norwegische Produktion Utøya 22. Juli von Erik Poppe, die Anfang des Jahres auf der Berlinale ihre Premiere feierte und das Attentat in einer 72-minütigen Plansequenz aus der Sicht der Opfer inszenierte. Auf der anderen Seite befindet sich 22 July von Paul Greengrass, der erst kürzlich im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig seine Premiere feierte und einen gänzlich anderen Ansatz zur Aufarbeitung der Anschläge wählt. Während sich Utøya 22. Juli abseits eines einleitenden Prologs ausschließlich auf der titelgebenden Insel abspielt, beschäftigt sich 22 July ebenfalls mit den Folgen. Beide Filme sind so streitbar, wie sie Teil des Verarbeitungsprozesses sind.

Während Erik Poppe den Attentäter zur unsichtbaren und damit umso gefährlicheren, weil nicht greifbaren Figur stilisiert, die bis auf wenige kurze Momente ausschließlich durch tödliche Schüsse in der Entfernung wahrnehmbar ist, rückt Paul Greengrass diesen gleich in den ersten Minuten seines Films in den Mittelpunkt. Er gibt nicht nur den Opfern ein Gesicht, sondern ebenfalls dem Täter, der auch später vor Gericht die gleichen Grundrechte wie jeder andere Mensch genießt. Greengrass, der 22 July nicht nur als Regisseur umgesetzt, sondern ebenfalls als Drehbuchautor recherchiert hat, will damit so viele Aspekte des Konflikts wie möglich offenlegen. Sein Film gleicht einer Sammlung von Zeitungsausschnitten und Nachrichtenaufnahmen, die sich dem Thema so umfassend wie möglich annähern sollen. Entwickelt unter dem Arbeitstitel Norway beschäftigt sich 22 July folglich mit einem Land, das unvorbereitet mit einem Akt rechter Gewalt konfrontiert wird und daraufhin versucht, eine Zukunft zu ermöglichen, in der sich ein solcher Schrecken nicht wiederholt. Politisch ist dieser Film durch und durch.

Damit unterscheidet er sich weiterhin von Utøya 22. Juli, der lediglich mit seinen abschließenden Texttafeln auf die politischen Hintergründe des Attentats verweist. Paul Greengrass betreibt deutlich mehr Kontextualisierung und pickt sich aus jeder Ecke des Spektrums eine Figur heraus, die zeitweise ins Zentrum der Geschichte rückt, um das Ausmaß zu verdeutlichen. Dennoch kehrt er immer wieder zu Breivik zurück und verfolgt – viel zu fasziniert – dessen Aussagen. Das Resultat ist ein großes Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Parteien, die zu Wort kommen (wollen), wodurch sich der Film entgegen seines eigenen Anspruchs auf Vollständigkeit in eine fragmentarische Irrfahrt durch öffentlichen Gerichtsanhörungen und persönlichen Schicksalsgeschichten verwandelt. Greengrass scheitert im Angesicht der eigenen Ambition. Das verwundert durchaus, wussten seine bisherigen Werke sowohl mit wahren als auch fiktiven Hintergründen effektiv politische Brennpunkte aufzuzeigen. Mit 22 July verrennt er sich jedoch in einer semi-dokumentarischen Zusammenfassung der Geschehnisse.

Die Stärken von 22 July liegen zweifelsohne bei einer Familie der Opfer, die neben Breivik die meiste Screentime erhält und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Schlussendlich hat Paul Greengrass zu all den gesammelten Informationen aber überraschend wenig zu sagen, während er die gesammelten Zeitungsausschnitte und Nachrichtenaufnahmen zusammenfügt, ohne einen eigenen, abschließenden Gedanken zu formulieren. Wenngleich 22 July mit hoffnungsvoller Note endet, gelingt es dem Film nicht, die Schatten der vorherigen Niederlagen einzudämmen. Trotz des Strebens, auf keinen Fall zu vergessen, dominieren in 22 July nur ein grauer Schleier, der sich niederschmetternd durch den Film zieht und sämtliche feine Nuancen unter sich bedeckt. Diese existieren nämlich durchaus – allerdings nur verborgen in einem Labyrinth aus vielen Fragen und Antworten, die in den seltensten Fällen stimmig zusammenfinden. Genauso wie Utøya 22. Juli entpuppt sich Greengrass’ Schilderung der Anschläge in Norwegen 2011 somit in erster Linie als ein weiterer Versuch, Bilder für das Grauen zu finden, was definitiv keine einfache Aufgabe ist.

22 July © Netflix