Wie fühlt es sich an, am Abgrund zu stehen? David Finchers Neuverfilmung der ersten Teils von Stieg Larssons Millennium-Trilogie kannte viele, mitunter verstörende Antworten auf diese Frage und entführte in eine verschneite Märchenwelt, die schon bald nichts außer den kalten Tod offenbarte. Auch Fede Alvarez interessiert sich für die Abgründe von Lisbeth Salanders Geschichte und verortet seine Protagonistin gleich im Rahmen des Prologs von The Girl in the Spider’s Web an jenen schicksalhaften Ort, der in die Tiefe führt. Lisbeth muss eine Entscheidung treffen, die ihr Leben für immer verändern wird, womit das Reboot der Reihe, das die Existenz der vorherigen Filme nicht ausschließt, einen deutlich konkreteren Zugang zu der sonst so verschlüsselten Hackerin ermöglicht. Was folgt, sind unterkühlte Bilder vor eisiger Kulisse und eine Reihe großartig konzipierter Thriller-Passagen. Die Intensität von Finchers Version, die bereits das schwedische Original in den Schatten stellte, erreicht The Girl in the Spider’s Web – hierzulande unter dem Titel Verschwörung geläufig – trotzdem nich.
Es überrascht durchaus, dass Fede Alvarez nach dem überwältigenden Blutregen seines Evil Dead-Remakes und dem nervenaufreibenden Home-Invasion-Thriller Don’t Breathe ausgerechnet bei The Girl in the Spider’s Web seinen bis dato am wenigsten mitreißende Film abliefert. Gemeinsam mit Steven Knight und Jay Bash zeichnet er das Drehbuch verantwortlich, das sich auf die gleichnamige Vorlage von David Lagercrantz stützt, der wiederum auf die von Stieg Larsson erdachten Figuren zurückgreift. Schlussendlich gingen die geschriebenen Seiten aber durch zu viele Hände, sodass es kaum noch Widerstände in der Geschichte gibt. In The Girl in the Spider’s Web greifen die Ereignisse zu perfekt ineinander, sodass Konflikte aufgelöst werden, ehe sie ihr Potential überhaupt entfalten können. Die Jagd nach einem mächtigen MacGuffin stiehlt den angerissenen Themen die Zeit, um ordentlich vertieft zu werden. Darüber hinaus erstickt The Girl in the Spider’s Web geradezu in Status-Updates, die den Fortschritt der Handlung erklären. Zu groß ist die Angst, die Zuschauer auf halber Strecke zu verlieren.
Das nimmt die Spannung aus einem Film, dessen wertvollster Treibstoff die Atemlosigkeit des Informationszeitalters ist. Unendliche Datenströme bestimmten die Welt von The Girl in the Spider’s Web und ermöglichen einen spannenden Diskurs der Grenzenlosigkeit. Wo mit einem Klick ganze Gebäudekomplexe lahmgelegt werden können, gelangen die Menschen innerhalb weniger Stunden von San Francisco nach Stockholm – und dennoch gibt es Ländergrenzen, die der internationalen Expansion der Geschichte im Weg stehen. Wenn Lisbeth Salander im gleichen Atemzug Überwachungskameras aufstellt, wie sie sich vor ihnen versteckt, überzeugt ihr neu geformtes Kinoabenteuer mit den gleichen Mechanismen, wie sie in den Jason Bourne-Filmen zu finden sind. Dazu gehören auch denkwürdig inszenierte Passagen von hektischen Bewegungen und unscheinbaren Übergängen. Im Fall von The Girl in the Spider’s Web avanciert so etwa ein Flughafen zum ergiebigen Schauplatz, um die Figuren durch das selbst geschaffenen Labyrinth aus altem Beton und digitaler Technologie zu jagen.
Wenngleich sich der Ablauf der Geschichte schnell durchschauen lässt, beherbergt The Girl in the Spider’s Web immer noch viele tolle Ideen und Motive, die in Einzelmomenten durchblitzen und durch das erfrischende Ensemble zum Leben erwachen. Claire Foy, die sich als überaus würdige Nachfolgerin von Noomi Rapace und Rooney Mara erweist, etabliert ihre Lisbeth zwischen angemessener Härte und berührender Zerbrechlichkeit. Während The Girl in the Spider’s Web in erster Linie eine Welt erschafft, in der Frauen unter der Gewalt von Männern leiden, tritt Lisbeth zuerst als unbesiegbarer Racheengel auf, ehe die Wunden der eigenen Vergangenheit zum Vorschein kommen und das festgefahrene Gut-Böse-Schema mit einer ambivalenten Schwester-Schwester-Beziehung aufgebrochen wird. Als Gegenspielerin tritt dieses Mal niemand Geringeres als Lisbeths Schwester Camilla (Sylvia Hoeks) auf den Plan, ein gefallener Engel im feuerroten Gewand, der die schneeweiße Landschaft wie ein Blitz spaltet und dadurch mindestens einen der eingangs erwähnten, symbolischen Abgründe offenbart.
Auf einmal stehen sich die Schwestern am jeweils anderen Ende einer Brücke gegenüber, während das verbindende Mittelteil sprichwörtlich aus der Verankerung gerissen wurde. The Girl in the Spider’s Web besitzt viele dieser Augenblicke, in denen die Bildsprache genügt, um die Figuren in Beziehung zueinander zu setzen. Schlussendlich schafft es der Film jedoch nicht, dem Schatten des unglücklichen Drehbuchs zu entkommen. Zu oft fehlt der Mut, die Bilder für sich sprechen zu lassen, was in Anbetracht der vielen denkwürdigen Einstellung wirklich schade ist. Erst, wenn Fede Alvarez wieder bei seinen Abgründen ist, lässt er sich von nichts und niemanden aufhalten. Dann öffnet sich sogar zwischen den Fahrstühlen zweier voneinander getrennten Gebäuden ein Graben zwischen alten Bekannten, die in einem anderen Leben bereits Unbeschreibliches erlebt haben. Ein starker Moment, der sich der Macht des Kinos, verborgene, heimliche Geschichte zu erzählen, bewusst ist. Atmen kann eine solche Geste in The Girl in the Spider’s Web allerdings nicht, denn insgeheim ist die Hatz schon bei der nächsten Station angekommen.
The Girl in the Spider’s Web © Sony Pictures
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