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Anora – Kritik

Es ist unheimlich kalt in New York. Erbarmungslos pfeift der Wind über die Promenade von Brighton Beach. Die Fahrgeschäfte stehen still, als wären sie eingefroren. Mächtige Stahlstrukturen, deren sonst so strahlende Lichter erloschen sind. Verflogen ist das unbeschwerte Gefühl des Sommers, das zuletzt durch The Florida Project und Red Rocket strömte. Eingepackt in dicke Mäntel mit hochgeklappten Krägen stapfen die Menschen durch den eisigen Sand.

Dennoch existierte sie, die Unbeschwertheit, zumindest kurz. Bevor das trostlose Grau des Winters Einzug in Anora hält, verliert sich Sean Bakers neuer Film im Lichtermeer von Las Vegas. Alles dreht sich. Ein einziger Rausch. Hier heiraten Ani (Mikey Madison), eine Sexarbeiterin aus Brooklyn, und Vanya (Mark Eydelshteyn), der Sohn einer russischen Oligarchenfamilie. Spontan, überstürzt. Für die Greencard, für das Geld. Für die Möglichkeiten Amerikas.

Sobald Vanyas Eltern davon erfahren, bricht die Hölle los, konkret in Form von drei Herren, die unangemeldet vor der Tür stehen und auf unbeholfenste Weise versuchen, Schadensbegrenzung zu betreiben. Vanya ergreift die Flucht und lässt Ani allein in der Villa zurück – nicht nur mit den übergriffigen Männern, sondern auch der Ungewissheit, ob sie an diesem Ort überhaupt noch Verbündete hat. Ist die (Geschäfts-)Beziehung an diesem Punkt schon wieder vorbei?

139 Minuten reiht Baker eine unerwartete Wendung an die nächste und überlegt, wie naiv eine Liebesgeschichte sein darf. Auf den ersten Blick wirkt Anora wie ein raues Update des RomCom-Klassikers Pretty Woman, in dem die Liebe mit Transaktionen kollidiert. Die von Julia Roberts gespielte Sexarbeiterin wird zuerst von Richard Geres wohlhabenden Unternehmensplünderer bezahlt, ehe echte Gefühle die finanzielle Abmachung zwischen den beiden verkomplizieren.

Wo Pretty Woman, dessen Drehbuch ursprünglich viel düstere Töne angeschlagen hat, die meiste Zeit über hingebungsvoll Hollywoods überhöhtes Feel-Good-Kino umarmt, erweist sich Anora als deutlich abgründigerer und kompromissloserer Film. Baker dreht die Entwicklung um: Von einem Begriff wie Liebe bleibt am Ende nicht mehr viel übrig, wenn es ihn je in seiner aufrichtigsten Form und nicht bloß als Argument im Streitgespräch gegeben hat.

Wenn Baker die Machtverhältnisse in jeder Szene neu auslotet, zerplatzen die Träume der Figuren, dass es um etwas mehr als ein Geschäft gehen könnte. Die Hoffnung auf die Geborgenheit eines Coming-of-Age-Films erlischt und ein rastloser Survival-Thriller mit Home-Invasion-Elementen breitet sich aus, bevor Anora komplett in den Modus eines Stress-Kino-Epos à la Uncut Gems schaltet und von einem ungemütlichen Ort zum nächsten hastet.

Bereits in der Brust von Simon Rex pulsierte eine große Ungeduld, die mit der Fluchtfantasie zurück nach Hollywood kollidierte, als er – vorbei an brummenden Industrieanlagen – durch die Hitze von Red Rocket marschierte. In Anora verstärkt Baker diese Unruhe durch die Kälte, die er aus der Umgebung und den Lichtverhältnissen zieht. Nicht erst die freudlose Leere der Strandpromenade mit ihren verlassenen Fahrgeschäften sorgt für Unbehagen.

Die Villa von Vanyas Eltern steht als Monstrum in dem Film und isoliert die Figuren vom Rest der Welt. An einem Schauplatz, der Luxus ausstrahlen will, aber sich jeglicher Eleganz und Schönheit verwehrt, inszeniert Baker die nervenaufreibendsten und gleichzeitig witzigsten Minuten seiner Karriere. Tatsächlich: Entgegen aller Abgründe, die sich in Anora offenbaren, säumt jede Menge Humor – mitunter sogar Slapstick-Einlagen – diese kantige New York-Odyssee.

Sobald der orthodoxe Priester Toros (Karren Karagulian), Vanyas Babysitter in New York, mit den Handlangern Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yura Borisov) auf den Plan tritt, wechseln sich drastische Bilder und absurd witzig komponierte Momente ab, ohne dass der Film von seinen ambivalenten Zwischentönen verliert. Im Gegenteil: Sie werden nur verstärkt. Baker balanciert mit verblüffender filmischer Schärfe zwischen den extremen Stimmungspolen.

Egal, wie klischeebeladen eine Figur diesen Film betritt: Durch viele feine Nuancen, aufmerksame Beobachtungen und verborgene Nebenschauplätze, die sich als Running-Gags in den Film schleichen, aber insgeheim auch eine große Tragik beherbergen, fordert uns Anora auf, Vorurteile zu hinterfragen. Mit jeder neuen Entwicklung in diesem manipulativen Spiel müssen wir neu abwägen, welche Motivation hinter den meist geschrienen Worten stecken.

Professionelle und (sehr) unprofessionelle Menschen treffen in dieser aufwühlenden, aber deswegen nicht weniger unterhaltsamen Studie über Hierarchien und Befugnisse aufeinander. Geschlechterrollen und Milieus werden auseinandergenommen und in Form von Aufträgen und Verträgen wieder zusammengesetzt. Ein ständiges Feilschen um Positionen und Perspektiven, bei dem „gut“ und „böse“ eigentlich keine Rolle spielt. Denn es geht nur um das Geschäft.

Umso verblüffender gestaltet sich der letzte Gedanke des Films, der zwei seiner Schlüsselfiguren in einem zerbrechlichen Augenblick zusammenführt und mit einem echten Gefühl konfrontiert. Keine Transaktion, sondern eine Emotion, mit der beide komplett überfordert sind. Gerahmt wird diese Emotion in die Geste, die zuvor als Übergriff verletzte und jetzt als einzige tröstende Umarmung nach dem Überlebenskampf existiert – zögerlich wärmend, verloren.

Anora schließt nahtlos an Bakers vorherige Filme an, die von Ausbruch- und Aufbruchsversuchen in zerreißenden Coming-of-Age-Geschichten erzählen, anfangs inspirierend, schlussendlich niederschmetternd. Disney World scheint immer in Reichweite und trotzdem kommt niemand dorthin. Und selbst wenn man einen Fuß ins Magic Kingdom setzt, bleibt die Frage, wie lange der Zauber währt, wenn er nicht sowieso von Anfang an nur eine Illusion war.

Gedankenverloren blickt Ani aus dem Fenster der eiskalten Villa. Nicht einmal die unzähligen Schneeflocken, die vom grauen Himmel schneien, können die Leere füllen, die nach dem Zerplatzen der Träume regiert. Sie fallen einfach, sorglos, verträumt, unerhört. Niemand kann sie aufhalten, geschweige denn greifen. Welten wurden in diesem Film in Bewegung versetzt und dennoch bleibt in den letzten Minuten ein Gefühl von Machtlosigkeit und Einsamkeit zurück.

Beitragsbild: Anora © Universal Pictures