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A Touch of Sin – Kritik

„Did you know animals commit suicide?“, fragt Xiao Yu (Zhao Tao) ihre Kollegin beim Schichtwechsel der Rezeption eines Massage-Studios, das gleichzeitig als Nobel-Bordell fungiert. Beherzt zynisch antwortet die Angesprochene mit einer Gegenfrage, die sich auf folgende Erkenntnis resümieren lässt: Wissen sie etwa, dass der Tod besser ist als ihr trostloses Leben? Das Leben in Jia Zhangkes neustem Film, A Touch of Sin, ist wahrlich ein trostloses. Gesellschaftliche Missstände bestimmen den deprimierenden Grundtenor im gegenwärtigen China. Ausbeutung, Unterdrückung und Korruption bilden die Eckpfeiler der Gesellschaft, die hilflos zwischen Kommunismus und Kapitalismus schwankt, die unbarmherzige Eigennützigkeit eines jedes einzelnen nicht zu vergessen. Der Mann der nächst höheren Schicht ist hier kontinuierlich ein Tyrann und selbst wenn eine Figur wie Dahai (Wu Jiang) am wortwörtlich untersten Grund einer Mine schürft, ist es das gegenseitig Misstrauen und Vergönnen, dass die Menschen zerfrisst und in eine ausweglose Lage manövriert.

Wann, wie und wo erfolgt der Ausbruch aus dieser leidenschaftslosen Tristesse, derer einziger Sinn und Zweck das (Über-)Leben zu sein scheint. Wenn Xiao Yu schließlich in einem Akt der verzweifelten Gewalt – resultierend aus einem Akt der misogynen Herablassung – ihren männlichen Peiniger endgültig den Garaus bereitet, indem sie ihn mittels Messer aufschlitzt, als wäre sie aus einem Wuxia-Film des goldenen Zeitalters im Hongkong-Kino entsprungen, wird deutlich, dass Jia Zhangke mehr als nur eine nostalgische Erinnerung an besagtes Genre geschaffen hat. Wie einst die ritterlichen Krieger von ihrer Kampfkunst Gebrauch machten, um der unterdrückenden Obrigkeit einen Schlusspunkt zu setzten, brechen ebenso die Figuren in A Touch of Sin aus ihrer misslichen Lage mit einer Eruption der gewaltigen Tat aus. Diese erfolgt auf sowohl passiv fortlaufende als auch unberechenbar emotionale Weise und nimmt im Regelfall ein blutiges Ende.

Dennoch vergnügt sich Jia Zhangke nicht mit der penetranten Demonstration Splatter-lastiger Passagen, sondern ordnet diesem Konstrukt der Revolution stets eine vielschichtige Geschichte über. Genauer gesagt handelt es sich dabei um das fragmentarisch aufgearbeitete Schicksal von vier Menschen, die alle ein erbärmliches Dasein am unteren Ende der Nahrungskette fristen. Neben Dahai, Xiao Yu und dem Wanderarbeiter Zhou San (Wang Baoqiang) gibt es da noch den jungen Xao Hui (Luo Lanshan), der orientierungslos von einem Engagement zu anderen driftet. Sie alle durchleiden einen Alltag an der Grenze zum Existenzminimum und sehen ihren Vorgesetzten dabei zu, wie sich mit Privatjets einfliegen lassen oder anderweitig im verschwenderischen Wohlstand wälzen. Wenn es zur Kommunikation zwischen den ungleichen Parteien kommt, ist dies lediglich einmal mehr Beweis für die Respektlosigkeit seitens der nächsthöheren Vormachtstellung. Und letztendlich ist es die Würde, die mit Füßen getreten wird und der (Moral-)Kodex geht mit Schlägen, Tritten und Schüssen, die allesamt ihrer Vergeltung suchen, im Schlamm der Verdammnis unter.

Gepeinigte in einem Kaleidoskop der Gewalt: Nachdem jegliche Worte versagt haben und der Dialog ausschließlich im Ausweg der Demütigung endet, tritt der Fall des unvermeidbaren ein und das sowieso über die Jahre extrem strapazierte Fassungsvermögen eines instabilen Fasses läuft über. Notwendig, dringlich und unabwendbar ereignet sich die Katastrophe und während im Fernsehen noch die formvollendete Schönheit der Ästhetik des Schusswechsels in Form von Johnnie Tos Exiled über den Bildschirm flimmert, explodieren in der Wirklichkeit die Köpfe und tote Körper fallen in den trockenen Staub der Erde. Von einem Gefühl der Unendlichkeit begleitet, bedeutet diese radikale Befreiung jedoch keinesfalls die Erlösung im Finale. Stattdessen entsteht ein weiteres, großes Loch, doch irgendwo in dieser unerkenntlichen Tiefe bahnt sich ein Hoffnungsschimmer den Weg durch den bewölkten Himmel – wenngleich am Ende der der mittellose Suizid nach einer friedvollen Auseinandersetzung den Ausbruch aus einem ewigen Teufelskreislauf des ständigen Gebens und Nehmens definiert.

Jia Zhangke inszeniert diese Ereignisse beinahe mit schwebender Leichtigkeit und dennoch sitzt jede Einstellung in diesem parabelförmige Film punktgenau wie ein Schlag in die Magengrube. Ein moralinsaures Stück Gegenwartskino ist A Touch of Sin trotzdem nicht. Im dezent farbenprächtigen Gewand ist es viel mehr ein Gedankenstrom in Form eines Spiegelbildes, der mit unheimlich breiter Fläche die gezeigten Geschehnisse reflektiert, vermischt mit der – in ein modernes China verlagert sowie adaptierten – mythischen Kraft der Wuxia-Strömung. Geradezu episch sind die Ausmaße, die das episodische Drama annimmt. Auf den offensichtlich zusammenlaufenden Effekt ist die verheerende Odyssee durch das Reich der Mitte im 21. Jahrhunderts allerdings keinesfalls ausgelegt. Jia Zhangkes Figuren begegnen sich nur zufällig und ganz beiläufig in der Weltgeschichte. Im Grunde wissen sie nicht einmal voneinander. Aber vielleicht sind gerade aufgrund dieser akzeptierten Unwissenheit ihre Schicksale so eng miteinander verbunden.

Wenn der letzte Körper ganz ohne initiierenden Schuss in kontrollierter, behutsamer sowie erschreckender Ruhe auf dem Asphalt der Straße aufschlägt, hinterlässt A Touch of Sin ein mulmig angenehmes Gefühl der Hoffnung. Dennoch ist zwischen den Zeilen der Weltuntergang vonstattengegangen – genauso wie der Zug, der sich unerwartet in Bewegung setzt, obwohl sich zwei Menschen eben noch Lebewohl sagen wollten. Dann verliert ebenfalls die Kamera ihren Fokus und pendelt gedankenlos im Nirgendwo des ewig erscheinenden Bahnsteigs, bis die zurückgebliebene Persönlichkeit wieder mit ihrer Präsenz die Konzentration der Sequenz unbewusst dominierend wieder auf sich lenkt. Ein Rücken, ein Abschied. Irgendwann treffen wir uns wieder. In einer besseren Welt.

A Touch of Sin © Rapid Eye Movies