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An Elephant Sitting Still – Kritik

Wie groß, schnell und laut die Welt ist. Alles dreht sich in einer unaufhaltsamen Bewegung, die sich im schlimmsten Fall in eine Abwärtsspirale verwandelt und mehr Wunden aufreißt, als heilende Worte gesprochen werden können. Ausgerechnet in dieser Welt, konkret im nordchinesischen Manzhouli, soll es einen Elefanten geben, der den ganzen Tag einfach nur dasitzt und das wilde Treiben um sich herum ignoriert. Ein Koloss, der dem Wahnsinn trotzt und mit seinem Nichtstun die Menschen mindestens fasziniert, wenn nicht sogar inspiriert. Ab der ersten Minute von An Elephant Sitting Still (OT: Da xiang xi di er zuo) verleiht diese Aussicht Hoffnung – oder definiert zumindest ein Ziel für die verlorenen Protagonisten der Geschichte, die machtlos der eingangs erwähnten Abwärtsspirale ausgesetzt sehen. Regisseur Hu Bo, der mit An Elephant Sitting Still seinen ersten und letzten Langfilm umsetzte, nahm sich am 12. Oktober 2017 mit 29 Jahren das Leben. Vier Monate später feierte sein knapp vierstündiges Vermächtnis auf der Berlinale seine Premiere.

Der Lebenszweifel zieht sich wie ein roter Faden durch An Elephant Sitting Still, insbesondere dann, wenn die Figuren durch ihre Umgebung in eine ausweglose Enge gedrängt werden. Während die Sonne einmal auf- und einmal untergeht offenbart sich ein Labyrinth voller Sackgassen. Auf gewisse Weise ist ein Entkommen damit ausgeschlossen, minütlich bestätigt Hu Bo die Niederlagen seiner Leidensträger. Diese finden sich zwar in unterschiedlichen Situationen wieder, laufen sich später am Tag trotzdem über den Weg, da sie sich auf der Flucht befinden und durch eine Reise nach Manzhouli die einzige Möglichkeit auf Erlösung sehen. So hat Bu mit verheerenden Folgen den Bully Shuai die Treppe hinuntergestoßen, während seine Mitschülerin Ling in Konflikt mit ihrer Mutter und zu nahe an einen Lehrer gerät. Cheng, Shuais älterer Bruder, wird derweil von dem Suizid eines Freundes geplagt, für den er sich verantwortlich fühlt, und Herr Wang droht, von seinem eigenen Sohn in ein Heim verbannt zu werden.

Im Lauf eines Tages kollidieren diese vier Schicksale miteinander und stehen stellvertretend für eine Gesellschaft, die von wirtschaftlicher Depression verfolgt wird und dadurch in ein Elend stürzt, in dem jeder sich selbst der Nächste ist. Die Verhältnisse gehen verloren, sodass plötzlich jeder den anderen verdächtigt: Angst, Neid und Hass zerfressen die Menschen, treiben sie aber auch an, denn jeder versucht, sich vor der Gleichgültigkeit zu retten. Viel zu einfach wäre es, von dieser betäubten Welt, die im Stillstand untergeht, überrollen zu lassen – sich ihr zu ergeben und in den Hintergrund zu verschwinden, der sich stets dem Fokus der Kamera entzieht. Hu Bo überwindet sich dennoch und holt die Menschen und das Menschliche immer wieder ins Zentrum seiner Bilder zurück. Aufmerksam schaut er seinen Figuren über die Schulter, interessiert sich für ihre zerrissenen Gesichter und beobachtet sie beim Klagen, denn das ist der einzige Weg, um ihnen zuzuhören, um ihnen eine Stimme zu schenken, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.

Die Bilder erweisen sich dabei als hypnotische Kraft, denn meistens will die Einstellung gar nicht abreißen. Lange verweilten wir mit den Figuren im gleichen Raum, gehen mit ihnen über die Straße, lauschen dem Geräusch eines vorbeifahrenden Güterzuges oder folgen ihnen um die Ecke eines Treppenhauses, selbst wenn das, was wir im nächsten Moment sehen und erleben werden, die Sprache verschlägt. Schwerelos und einnehmend können diese Aufnahmen sein, die stets von blauen und grauen Farbtönen begleitet werden. Die Welt von An Elephant Sitting Still fühlt sich mitunter so an, als hätte sie jemand der kräftigen Strahlen betäubt und stattdessen in einem Schleier der Ohnmacht verhüllt. Nicht einmal rote Akzente dringen durch den erdrückenden Nebel, der alles unter sich begräbt und für eine endzeitliche Stimmung verantwortlich ist. Jeder neue Atemzug mutiert zur Last, während vom Elefant in Manzhouli kein Lebenszeichen zu vernehmen ist. Durchdringende Kälte breitet sich aus und befeuert die Angst und Verzweiflung.

Nur die rar eingesetzte Musik vermag es, die daraus entstehende, vernichtende Stille zu durchbrechen. Was folgt, ist die Melancholie eines tragischen Testaments, das entgegen des Vertrauensverlusts in die Welt und die Menschen die Vorstellung an jenen Elefanten lebendig werden lässt, der als symbolischer Anker Trost spendet, wenngleich seine Existenz weiterhin fraglich bleibt. Es ist das Kuriosum, das am Leben hält und Abstand zu der Leere schafft, die der graublaue Nebel beschwört. So fängt Hu Bo beides ein: Das erdrückende Gefühl, das aus dem Müll in den Straßen resultiert und den Trümmern, die links und rechts davon ihre Schatten werfen. Gleichzeitig strahlt An Elephant Sitting Still durch seine absolut selbstlose Aufmerksamkeit eine unbeschreibliche Wärme aus, die durch den Einsatz der Musik am ehesten spürbar, jedoch die gesamte Zeit über gegenwärtig ist. Denn die Hoffnung geht beim Elefant nicht verloren, obgleich wir nicht wissen, welchen Sinn und Zweck er eigentlich in dieser Welt verfolgt.

An Elephant Sitting Still © Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V.