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Billie Eilish: The World’s a Little Blurry – Kritik

Ein klinisch weißer Raum. Ein Glas mit schwarzer Flüssigkeit. Ein Mädchen mit blauen Haaren. Das Musikvideo zu Billie Eilishs melancholischem Song When the Party’s Over beginnt mit außerweltlichen Bildern. Trotz der Intimität und Nähe, die durch die Musik und den Text entsteht, wirkt das Gezeigte, als würde sich ein Albtraum in Zeitlupe entfalten. Billie Eilish leert das Glas und die schwarze Flüssigkeit quillt in Form von Tränen aus ihren Augen heraus – ein schauriges Bild, aber vor allem eines voller Einsamkeit.

Billie Eilish: The World’s a Little Blurry führt hinter die Kulissen dieses ikonischen Moments. Nicht nur ins Studio, in dem das Musikvideo aufgenommen wurde. Bis in den Garten hinter dem Haus von Eilishs Familie dringt R.J. Cutlers mitreißende Dokumentation vor, um zu verstehen, woher die Musik der jungen Singer-Songwriterin kommt. Hier, im heimischen Garten, hält sie die Kamera selbst in Händen und filmt ihre Mutter, die verlegen das leere Glas anhebt, in dem sich später die schwarze Flüssigkeit befindet.

Der Kontrast könnte kaum größer sein: Auf der einen Seite existiert das perfekt gefilmte Musikvideo mit aufwendigen Kamerabewegungen und Spezialeffekten. Auf der anderen Seite versteckt sich das gleiche Motiv in einem unscheinbaren Homevideo. Doch für Billie Eilish macht es keinen Unterschied. Als Zuschauende können wir unmittelbar den Augenblick erleben, an dem sie ihre Ideen entwickelt, vorzugsweise gemeinsam mit ihrem Bruder Finneas O’Connell, der mit ihr im ehemaligen Kinderzimmer die Songs schreibt.

Aufgenommen wird alles: Von verzerrten Musikinstrumenten über gehauchte Textzeilen bis hin zu dem Geräusch, das entsteht, wenn Billie Eilish ihre Zahnschiene aus dem Mund nimmt. Es existieren keine Regeln, keine Vorgaben und – zumindest am Anfang – keine Deadlines. Ein unbeschwertes Ausprobieren dokumentiert R.J. Cutler, auch wenn die Selbstzweifel in jeder Szene spürbar sind. Nicht zuletzt prägen sie den unvergleichlichen Sound von Eilishs Songs. Diese Sprache lässt sich nicht im Studio kreieren.

Wo die meisten Dokus über berühmte Persönlichkeiten die Menschen hinter den Superstars zum Vorschein bringen, fällt es bei The World’s a Little Blurry deutlich schwerer, eine ähnliche Bewegung auszumachen. Wenn Eilish auf der Bühne steht, fühlt sich diese wie die Erweiterung des Kinderzimmers an. Die Verletzlichkeit, die sie in den Songs preisgibt, dringt ebenso im Gespräch mit dem Publikum durch. Es entsteht der Eindruck, als wäre die Star-Persona deckungsgleich mit der normalen Billie Eilish.

Umso beeindruckender ist es, wie selbstbestimmt sie sich ihren Weg durch ein Leben bahnt, in dem es keine klaren Trennlinien zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gibt. Mehr und mehr Scheinwerfer richten sich auf sie. In der Vergangenheit haben wir zu viele Stars gesehen, die an diesem Druck zerbrochen sind. Dazu gehört auch der von Eilish seit Kindesjahren verehrte Justin Bieber, mit dem sie später im Zuge eines Remix ihrer bis dato erfolgreichen Single, Bad Guy, ganz professionell zusammenarbeiten soll.

Noch spannender gestaltet sich eine Begegnung mit Katy Perry, die mit warnenden Worten auf Billie Eilish zugeht. Die nächsten zehn Jahre werden ein wilder Ritt. Perry spricht aus Erfahrung. Eilish weiß, dass sie es tut. Obwohl sie zu jung ist, um Orlando Bloom im Kreis der versammelten Personen zu erkennen, wirkt sie unheimlich erwachsen in diesem Moment. Es ist eine der faszinierendsten Beobachtungen, die R.J. Cutler in seinem Film einfängt: Billie Eilish auf der Schwelle zwischen Kinderzimmer und Coachella-Set.

The World’s a Little Blurry funktioniert somit als großartiger Coming-of-Age-Film, der begeistert den Erfolgen seiner Protagonistin folgt, noch mehr aber ihr Durchhaltevermögen im Angesicht der körperlichen und emotionalen Herausforderungen bewundert. Cutler rahmt die Geschichte mit Eilishs erstem großen Song, Ocean Eyes. Dazwischen verändert sich sehr viel. Manche Dinge bleiben aber gleich: Die Eltern, die durchs Bild laufen. Der Bruder, der am Klavier sitzt. „Our family was just one big fucking song“, resümiert Eilish.

Die 140 Minuten von The World’s a Little Blurry schaffen einige spannende und vor allem aufrichtige Einblicke in das Leben der aufstrebenden Künstlerin. Nicht zuletzt wirkt der Film wie ein umfangreiches Videotagebuch voller unerwarteter Randnotizen und Erkenntnisse. Am Ende weiß Cutler aber selbst, dass seine Doku nur eine Momentaufnahme ist. Dem Phänomen Billie Eilish kann er sich nur annähern. Zu fassen bekommt er es allerdings nicht. Dazu hat sich Eilish in den vergangenen Jahren viel zu schnell weiterentwickelt.

Beitragsbild: Billie Eilish: The World’s a Little Blurry © Apple TV+