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Climax – Kritik

Tanzt, denn sonst werdet ihr sterben. In Climax, dem neuen Film von Gaspar Noé, sind die Menschen verloren, wenn sie sich nicht in schwindelerregenden Drehungen durch den Raum bewegen. Nach einer kryptischen Prolog, der sich als das Ende des Films offenbart und die nachfolgende Eskalation mitsamt ihres verheerenden Ausmaßes vorwegnimmt, erzählen die Protagonisten dieses psychedelischen Dramas von ihren Wünschen, Träumen und Hoffnungen. Vor allem aber vom Tanzen, denn der Tanz ist es, der sie antreibt und am Leben hält. Der Tanz ist es, der sie zusammenbringt, damit sie Welten erschaffen können. Zuerst lernen wir diese Welten jedoch aus der Distanz kennen. Flimmernde Videobänder schaffen einen großen Graben, der gesäumt von geradezu dämonischer Film- und Literaturgeschichte ist. Hier schlägt das Mitternachtskino in einer statischen Aufnahme zu, ehe sich Climax selbst als Werk positioniert, das gleichermaßen zum Dokument von Albtraum und Ekstase wird. Sobald sich Gaspar Noé danach an den Ort des Geschehens, einem verlassenen Schulgebäude, wagt, liegen die Schönheit und Hässlichkeit der in Leidenschaft geeinten Gesellschaft erschreckend nahe beieinander.

Kameramann Benoît Debie, der seit Irréversible jeden Film von Gaspar Noé in einen unvergleichlichen Bilderrausch verwandelte, entpuppt sich als wertvollstes Glied in der Kette perfekt miteinander agierender Akteure, die sich frei von allen Zwängen machen. Im Rahmen einer Tanzprobe verschmilzt die Kamera komplett mit der Umgebung, indem sie sich von der Bewegung anstecken und mitreißen lässt. Die nachfolgenden Plansequenzen verleiten zum Staunen ob der geballten Energie, die das Ensemble transportiert. Außerdem untermauern sie die hypnotisierende Sogkraft eines Films, der zunehmend außer Kontrolle gerät, bis er sich komplett in assoziativen Bildern verliert und dabei genauso verstörend wie faszinierend, viel zu selten aber poetisch ist. Grotesk und abstoßend mutet das Treiben mitunter an, wäre da nicht die anfängliche Harmonie unter den Tänzern, die unter der Leitung von Choreographin Selva (Sofia Boutella) eine ansteckende Performance auf der selbst geschaffenen Bühne hinlegen. Auf einer symbolträchtigen Ebene avanciert diese selbst geschaffene Bühne zur Tanzfläche eines Frankreichs, in dem der Mensch frei ist und seine Hüllen fallen lassen kann.

Eine riesige französische Flagge glitzert im Hintergrund vor dem DJ-Pult, während sich der Reigen der Tänzer zur verblüffenden Naturgewalt mutiert, deren zerstörerische Kraft im Angesicht der dynamischen Bewegungsabläufe vorerst nur bedingt zum Ausdruck kommt. Wäre da nicht die rätselhafte Eröffnungssequenz, in der die friedliche Stille des Schnees von einem schreienden, blutenden Körper unterbrochen wird, ließe sich aus den dröhnenden Bässen der omnipräsenten Musik keine Drohung lesen. Stattdessen würde ein lebensbejahender Puls inspirieren, der die Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Sexualität zusammenbringt und einen feiernden Mikrokosmos entwirft. Die Stimmung kippt aber, sodass sich die Abgründe, die zuvor in Gesprächs-Fragmenten nicht bloß angedeutet, sondern mitunter auf unerträgliche Weise ausformuliert wurden, explosionsartig zum Vorschein kommen. Jemand hat etwas in den Sangria gekippt – so der schnell verbreitete Verdacht, der ebenso schnell sein erstes Opfer fordert, ehe die Menge den Verstand verliert und geblendet von ihrer vermeintlichen Freiheit aufeinander losgeht. Dann öffnet Climax, diese Bestie von Film, seinen Schlund und erwartet seine Opfer.

Da der Tanz aber weiterhin als universelle Sprache besteht, pulsiert tief im Inneren von Climax eine unerwartete Hoffnung auf Erlösung. Vertrauen können wir dieser Hoffnung allerdings nicht, da sie lediglich die Grenzen zwischen Spiel und Ernst verschwimmen lässt. Auch die Kamera wechselt ständig die Perspektive: Wo sie eben noch wie angewurzelt auf das fiebrige Geschehen starrte, stürzt sie sich kurz darauf in die Wogen des Menschenmeeres. Climax ermöglicht es uns, jeden Millimeter dieses glühenden Nachtmahrs zu entdecken und die echte Welt zu vergessen, während die Figuren ihre Körperteile herumschleudern und eins mit dem Bewegungsstrom werden, der schließlich als wütender Sturzbach auf ein vernichtendes Finale zusteuert. Die apokalyptische Dimension, die Climax im Zuge dieses tragischen Zerfalls von Schönheit und Zusammenhalt beobachtet, gehört wohl zu den niederschmetterndsten wie berührendsten Bestandteilen des Film, der sich vorzugsweise in Rastlosigkeit flüchtet. Im Morgengrauen verstummt die Musik und die Tore des Gebäudes werden aufgebrochen, um die letzten Überlebenden aus dem labyrinthischen Bunker zu retten. Die Frage ist nur, auf welcher Seite die Welt untergegangen ist.

Climax © Alamode Film