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Come from Away – Kritik

Stühle und Menschen. Mehr braucht Come from Away nicht, um aus einer der hoffnungslosesten Stunden der jüngeren Zeitgeschichte etwas Ermutigendes entstehen zu lassen. Das von Irene Sankoff und David Hein geschriebene Musical spielt in der Woche nach den Anschlägen des 11. September 2001 und erzählt von 38 Flugzeugen, die auf der kanadischen Insel Neufundland notlanden musste, weil ihnen die Einreise in die USA verwehrt wurde. Innerhalb weniger Stunden musste sich die Kleinstadt Gander auf 7000 gestrandete Reisende aus aller Welt vorbereiten.

Come from Away ermöglicht einen alternativen Blickwinkel auf den 11. September, der in seiner medialen Aufbereitung vor allem mit Bildern des Schreckens verbunden ist. Von alle diesen gibt es in Come from Away nichts zu sehen. Mit einem minimalistischen Bühnenbild werden Flugzeuge, Busse und Unterkünfte dargestellt. Der größte Spezialeffekt ist ein rotierendes Element in der Mitte der Bühne. Ansonsten bewegen sich vor allem die Darsteller:innen. Mit jeder Drehung verkörpern sie eine andere Person. Jedes Mal, wenn sie einen Stuhl verrücken, gelangen sie an einen anderen Ort.

Trotz der Schockstarre, die in der Prämisse der auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte verankert ist, erweist sich Come from Away als extrem dynamisches Musical. Doch was davon ist in der Aufzeichnung übrig geblieben, die nun auf Apple TV+ ihre Premiere feiert? Ursprünglich sollte Come from Away im großen Stil fürs Kino adaptiert werden. Aufgrund der Corona-Pandemie haben sich die Verantwortlichen dafür entschieden, eine Aufführung im Gerald Schoenfeld Theater in New York zu filmen. Es ist die namhafteste Unternehmung dieser Art seit Hamilton auf Disney+.

Come from Away bringt die Broadway-Magie ins heimische Wohnzimmer. Regisseur Christopher Ashley, der ebenfalls die Bühneninszenierung verantwortete, katapultiert uns mit der Kamera in die besten Plätze des Hauses – mitunter befinden wir uns sogar direkt auf der Bühne und schauen ins Scheinwerferlicht, während sich das Ensemble um uns herum verteilt. Genauso wie Hamilton ist Come from Away nicht am starren Bild interessant. Vielmehr versucht die Aufzeichnung, die Bühnenerfahrung zu erweitern und sie trotz der Distanz des Bildschirms greifbar zu machen.

Zwar kann der Film trotz einleitender Aufnahmen des Time Square die Atmosphäre eines Theaterbesuchs nicht heraufbeschwören. Dafür gelingt es Ashley durch die Positionierung der Kamera erstaunlich gut, zusätzliche Orte auf der Bühne zu eröffnen, die von einem gewöhnlichen Sitzplatz aus unmöglich zu erspähen wären. Die Anordnung der eingangs erwähnten Stühle erschafft versteckte Gassen und Winkel. Come from Away ist geschickt darin, diese Nebenschauplätze zu erforschen und uns die ausgeklügelte Inszenierung von allen Seiten zu Zeigen – ein nicht zu unterschätzender Reiz der Aufzeichnung.

Für gewöhnlich werden Broadway-Musicals nur fürs Archiv mit einem kleinen Kamerateam dokumentiert. Hamilton und Come from Away greifen dagegen auf deutlich mehr Ressourcen zurück und beweisen, dass in dieser Form noch sehr viel Potential steckt, gerade im Streaming-Zeitalter. Am spannendsten ist der Widerspruch, der mit beiden genannten Aufzeichnungen verbunden ist: Sie können das Gefühl einer Broadway-Vorstellung nicht ersetzen. In einzelnen Momenten bringen sie uns jedoch näher an das Musical heran, als es vor Ort in einem Theater jemals möglich wäre.

Gerade im Fall von Come from Away ist das sehr wichtig. Das Musical vollbringt den Balanceakt, aus dem 11. September eine hoffnungsvolle Geschichte entstehen zu lassen, ohne den Schmerz, die Angst und die Ungewissheit zu vernachlässigen oder gar komplett auszublenden. 106 Minuten lang tanzen Schauspieler:innen, die minütlich die Figuren wechseln, um Stühle, die die ganze Welt darstellen. Das sind viele Abstraktionsebenen für ein Musical mit einer solchen Ausgangssituation. Doch Come from Away transportiert die einzelnen Schicksale mit ergreifender Aufrichtigkeit – auch in dieser aufgezeichneten Version.

Beitragsbild: Come from Away © Apple TV+