Kaum ist die Marvel-Fanfare verklungen, katapultiert uns Doctor Strange in the Multiverse of Madness mitten hinein ins Abenteuer: Verfolgt von einem riesigen Ungeheuer rennen Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) und America Chavez (Xochitl Gomez) über schwebende Felsbrocken, die unter ihren Füßen wegbrechen. Auf der Erde befinden wir uns hier garantiert nicht: Glühende Hintergründe lassen auf eine fremde Dimension schließen – es ist nur eine von vielen, durch die wir im Lauf des neusten Kapitels im Marvel Cinematic Universe stolpern. Das Multiversum ist entfesselt.
Nachdem Loki auf Disney+ das Konzept des Multiversums vorstellte, wagte sich Spider-Man: No Way Home als erster MCU-Film in die Nähe eines jener Tore, die in eine andere Dimension führen. Herauskamen Figuren der vorherigen Spidey-Generationen, auch der von Tobey Maguire verkörperte Peter Parker, der zu Beginn der 2000er Jahre unter der Regie von Sam Raimi die große Leinwand eroberte. Genau genommen ebnete Raimi mit seiner Spider-Man-Trilogie dem aktuellen Superhelden-Boom den Weg. Jetzt kehrt er in den Marvel-Kosmos zurück, allerdings in einer anderen Timeline.
Abseits von einer kleinen Referenz in seinem ersten Spider-Man-Film hatte der US-amerikanische Regisseur bisher keine Berührungspunkte mit Doctor Strange. Die Origin-Story von Benedict Cumberbatchs Marvel-Helden inszenierte Scott Derrickson, der auch für die Fortsetzung zurückkehren sollte. Aufgrund von kreativen Differenzen kam die Reunion nie zustande, sodass Raimi kurzfristig als Ersatz einsprang. Er ist einer der größten Regie-Namen im MCU – und vor allem einer, der eine unverkennbare Handschrift besitzt. Doch was ist davon in der Doctor Strange-Fortsetzung übrig geblieben?
Mit jedem neuen Filmschaffenden, der sich in das von Marvel-Chef und Produzent Kevin Feige kontrollierte Franchise begibt, stellt sich diese Frage. In der Vergangenheit haben wir beides gesehen: Markante MCU-Einträge, die Rückschlüsse auf die Ambition der Regieführenden zulassen, und solche, die völlig befreit sind von jeglicher kreativen Vision. Raimi, der mit dem 2013 erschienen Oz: The Great and Powerful das letzte Mal eine vergleichbare Blockbuster-Produktion stemmte, kann der Trägheit des MCU einiges entgegensetzen – sogar einnehmende Horror-Momente hat er untergebracht.
Angefangen bei einem Monster, dessen überlebensgroßes Glubschauge von einer Laterne durchbohrt wird, bis hin zur Zombie-Version des titelgebenden Helden: Doctor Strange in the Multiverse of Madness überrascht mit mehreren ekligen Bildern, die im MCU nicht selbstverständlich sind. Von einem waschechten Horrorfilm sind wir trotzdem noch weit entfernt. Umso mehr begeistert jeder Arm, den Raimi bedrohlich aus dem Jenseits schießen lässt, und jede schwindelerregende Kamerabewegung, mit dem er er das aus den Fugen geratene Multiversum auf filmischer Ebene illustriert.
Die besten Augenblicke des Films ereignen sich, wenn die Figuren durch die Dimensionen purzeln und sich verformen – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. In der schönsten Sequenz zerlegt es Strange und Chavez zuerst in kleine Würfel, ehe sie als Farbkleckse durch die Gegend wirbeln und unzählige Versionen von New York an ihnen vorbeiziehen. Hier kommt Doctor Strange in the Multiverse of Madness dem Bilderrausch aus Spider-Man: Into the Spider-Verse am nächsten. Auch ein Kampf, in dem Noten gedehnt werden und sich in gewaltigen Klängen entladen, begeistert.
Und dann zersplittern die Figuren nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – allen voran Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen), die sämtliche Wunden aus WandaVision ins Multiversum trägt und als tragische Bösewichtin durch den Film fegt. Strange taumelt derweil zwischen zahlreichen Varianten seiner selbst umher und muss sein Selbstverständnis als Superheld hinterfragen. Seine Spiegelbilder bringen seine schlimmsten Instinkte zum Vorschein, während seine große Liebe, Christina (Rachel McAdams), sowohl in den entlegenen als auch den vertrauten Dimension unerreichbar scheint.
Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist zwar Lichtjahre von Raimis Spider-Man-Trilogie entfernt. Wenn der mächtige Marvel-Zauberer an seiner ewigen Einsamkeit zerbricht, die auch schon in der entsprechenden What If…?-Folge überraschend gut herausgearbeitet wurde, offenbart der Film eine unerwartet berührende Ebene. Besonders eine starke Szene, in der Liebe über Dimensionen hinweg verhandelt wird, entschuldigt all die kleineren bis größeren Enttäuschungen zuvor, von verschwendeten Cameo-Auftritten über schwachen Set-Pieces bis hin zum chaotischen Drehbuch.
Beitragsbild: Doctor Strange in the Multiverse of Madness © Disney
Kommentare sind deaktiviert.