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Ex Libris: The New York Public Library – Kritik

Wie viele Bücher gibt es eigentlich, die sich um die Abenteuer der jungen Dorothy Gale im zauberhaften Land von Oz drehen? Einige! Da staunt auch ein älterer Herr nicht schlecht, als er an einer Informationsstelle der New York Public Library Einblick in das Schaffen von Schriftsteller Lyman Frank Baum erhält und sich sogleich eine der Fortsetzungen zur Ausleihe reservieren lässt. Es ist einer von vielen kleinen Momenten, der die Aufmerksamkeit von Frederick Wiseman erlangt und somit sorgfältig beobachtet Einzug in das jüngste Werk des Filmemachers erhält. Ex Libris: The New York Public Library entführt in die Räume und Zweigstellen einer über 100 Jahre alten Einrichtung, die sich seit ihren Anfangsjahren nicht nur auf gehortete Inhalte konzentriert, sondern stets bemüht ist, das gesammelte Wissen an die Menschen weiterzuleiten. So erstrahlt die New York Public Library in Frederick Wisemans neuem Dokumentarfilm als ein Ort, der sich dem Auftrag der Bildung verschieben hat und darüber hinaus Leben, Gemeinschaft und Vielfalt zelebriert, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Ex Libris: The New York Public Library gleicht in seinen Idealen beinahe einer Utopie, was schnell zu der Frage führt, wie ein solch umfangreicher Komplex im 21. Jahrhundert überhaupt noch existieren kann, ohne eine große Anzahl an Kompromissen eingehen zu müssen. Die New York Public Library muss als Forum, in dem Menschen zusammenkommen und sich austauschen, verwaltet und vor allem finanziert werden. Logisch erscheint es also, dass Frederick Wiseman mit seiner Kamera diverse Gespräche in Meetings dokumentiert, bei denen Präsident und CEO Anthony Marx mit seinen Kolleginnen und Kollegen behutsam den Status quo der privaten und öffentlichen Gelder bespricht, während im Hintergrund die Überlegungen hinsichtlich der Planung einer Zukunft beginnen, in der die Digitalisierung einen immer größeren Stellenwert einnimmt. Wo Frederick Wiseman auf der einen Seite die Zahnräder im System – später geradezu bildlich in Form von Förderbändern bei der Rückgabe ausgeliehener Medien – offenlegt, fängt er auf der anderen Seite einen faszinierenden Schwebezustand zwischen Tradition und Moderne ein.

Das rare Exemplar einer Gutenberg-Bibel soll etwa für alle Menschen zugänglich ausgestellt werden. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach E-Büchern um 300 Prozent, sodass die Verantwortlichen mit der kniffligen Aufgabe konfrontiert werden, die zur Verfügung stehenden Ressourcen effektiv zu verteilen und dennoch eine große Breite an Angeboten zu ermöglichen. Geschickt verknüpft Frederick Wiseman verschiedene Sitzungs-Episoden mit anderweitigen Beobachtungen, die sich im NYPL-Kosmos abspielen und somit einen natürlichen Kontext liefern. Angefangen bei Gesprächen mit Autoren über die Organisation von sozialen Events bis hin zu den zahlreichen Bildungsprogramme, die Menschen aller Couleur dazu ermutigen, sich tiefer in dieses zauberhafte Land von Oz zu wagen und damit auseinanderzusetzen. Ex Libris: The New York Public Library gleicht dabei einem elegant wie eloquent komponiertem Kaleidoskop der Gesellschaft und einer Stadt, die ihre eigene Dynamik besitzt, im Lauf der Zeit trotzdem zum Fundament einer universellen Sprache aufgestiegen ist. Die Bücher spielen, ohne entwertet zu werden, nur eine zweitrangige Rolle, denn es geht in erster Linie um die Menschen, die sich um sie herum versammeln.

Klug montiert Frederick Wiseman die umkommentierten Momentaufnahmen zu einem facettenreichen Porträt, das wahrlich durch seine Protagonisten zum Leben erwacht. Überwältigend in seiner aufrichtigen Menschlichkeit ist Ex Libris: The New York Public Library aber insbesondere eines: inspirierend. Obwohl der Dokumentarfilm trotz seiner beachtlichen Laufzeit einen nur denkbar winzigen Einblick in die täglichen Ereignisse der florierenden Einrichtung gewähren kann, gelingt es Frederick Wiseman diesen Einblick überaus präzise zu gestalten. Die Existenz von Einhörnern wird hier genauso offen diskutiert wie die Angst davor, von der Zukunft überholt zu werden, während man sich auf selbige vorbereitet. Hier geht es darum, zu entdecken, sich selbst und die anderen. Es geht um den gegenseitigen Respekt und den Mut, einfach den ersten Schritt zu wagen. Und natürlich geht es um das Lernen, sowohl im Theoretischen wie im Praktischen. Ihr sollt euch hier austoben, die Dinge anfassen und selbst etwas erschaffen, lautet die Anweisung gegenüber einer Gruppe junger Menschen. Selbst Andy Warhol habe aus der New York Public Library gestohlen beziehungsweise sich inspirieren lassen.

Ex Libris: New York Public Library © Zipporah Films/Kool Filmdistribution GbR