Fast fünf Unterrichtsstunden nimmt die Laufzeit von Herr Bachmann und seine Klasse ein. Der neue Dokumentarfilm von Maria Speth setzt sich bei Dieter Bachmann in die Klasse und beobachtet aufmerksam die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen Schüler:innen. Es wird gestritten und gelacht, vor allem aber musiziert. Herr Bachmann betreibt keinen starren Unterricht. Stattdessen versucht er, jeden der jungen Menschen vor ihm zu sehen, zu erreichen und zu helfen, sich selbst zu finden. Das Ergebnis gehört zum Kostbarsten, was es dieses Jahr im Kino zu sehen gibt.
Gedreht wurde Herr Bachmann und seine Klasse bereits vor vier Jahren. Von Januar bis Juni 2017 besuchte Speth mit ihrem fünfköpfigen Team die Klasse 6b der Georg-Büchner-Schule im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf. Es ist der letzte Jahrgang, den Herr Bachmann unterrichtet. Danach wird er sich in den Ruhestand verabschieden. Das Alter merkt man ihm nicht an. Mit AC/DC-Shirt sitzt er gemütlich hinter dem Pult und erzählt energisch die Geschichte eines Tischs, der um die Aufmerksamkeit einer Gitarre buhlt. Sie kommt mehr oder weniger erfolgreich bei den Zuhörenden an.
In Herr Bachmanns Klasse sitzen Kinder mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen. Manche sind in Deutschland geboren, manche gerade erst hergezogen. Sprache ist eine Barriere, jedoch keine Barriere, die nicht überwunden werden kann. Geduldig und verständnisvoll hält Herr Bachmann seinen Unterricht. Er schafft Räume, um Probleme direkt anzusprechen und sie im Kreis der Schüler:innen zu diskutieren. Alle in der Klasse haben eine Stimme, die gehört wird, auch wenn es nicht immer leicht ist, zum Kern einer Auseinandersetzung vorzudringen.
Unaufdringlich verfolgt Kameramann Reinhold Vorschneider das Unterrichtstreiben. Schon bei Filmen wie Orly und Der traumhafte Weg glänzte er mit ruhigen Aufnahmen. Ein Großteil seines Schaffens lässt sich – genauso wie das von Speth – der Berliner Schule zuordnen. Eine spannende Ausgangssituation für einen Film, der nie die Kontrolle über das Gezeigte erlangen will. Stattdessen bewegt sich Herr Bachmann und seine Klasse im Geist des Lehrers: Er eröffnet Möglichkeiten, anstelle durch Druck das Tempo vorzugeben. Das Klassenzimmer ist kein Raum der Strenge. Es ist ein Raum der Sicherheit.
Mit seinen sorgfältigen Beobachtungen bewegt sich Herr Bachmann und seine Klasse in der Tradition von Frederick Wisemans außergewöhnlichem Dokumentar-Kino. In einem Jahr, in dem der US-amerikanische Altmeister aussetzt (sein letzter Film war der grandiose City Hall), führt uns Speth an einen Ort des Jetzt, der uns Außenstehenden für gewöhnlich verschlossen bleibt. Bilder voller Intimität und Empathie: Sie sind nicht nur Zeugnis von dem unglaublichen Vertrauensverhältnis, das Bachmann als Lehrer zu seinen Schüler:innen aufgebaut hat. Auch die Anwesenheit des Filmteams scheint den Unterricht nicht zu stören.
Die Montage des Films ist klug und rhythmisch. Sehnt man sich als Schüler:in nach dem Pausengong, vermag es Herr Bachmann und seine Klasse die lange Laufzeit mit so viel Leben zu füllen, dass man am Ende mehr den Tränen als der Ungeduld nahe ist. Für Herr Bachmann ist Schule Dialog und Verständnis. Eine Erfahrung, in der Angst und Schmerzen erlaubt sind, und immer jemand da, um darüber zu reden – und zwar mit aufrichtigen Worten, anstelle pauschaler Ermutigungen. Was Bachmann sagt, kann kein Notenspiegel wiedergeben. Trotzdem bewegt er sich in einem System.
Gymnasium, Realschule oder Hauptschule? Die Frage taucht in dem Film immer wieder auf. Ewig wird es den Notenschutz nicht geben. Und erst recht nicht diesen Herrn Bachmann, der sich bedingungslos auf seine Schüler:innen einlässt und aus seinem Beruf eine Berufung macht. Speth ringt mit der Beobachtung, dass das alles nicht Selbstverständlich ist, dass auch diese gelebte Utopie enden muss. Trotzdem erlaubt sich Herr Bachmann und seine Klasse, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Genau genommen ermutigt uns der Film 217 Minuten lang dazu.
Beitragsbild: Herr Bachmann und seine Klasse © Grandfilm
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