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Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot – Kritik

Nur wenige Filme von der Berlinale 2018 hallen dermaßen nach wie Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot. Nicht aufgrund der plötzlichen Gewaltausbrüche, die vor allem die zweite Hälfte von Philip Gröning jüngstem Werk dominieren, sondern wegen der goldenen Feldern zuvor, die von der (untergehenden) Sonne verzaubert werden und von einer gewissen Unendlichkeit künden. Unendlichkeit in einem Film, der in jeder seiner 174 Minuten mit dem Wesen der Zeit spielt, handelt und diskutiert. 48 Stunden trennen Elena (Julia Zange) und ihren Zwillingsbruder Robert (Josef Mattes) von dem Übergang in ein neues Leben. Nur eine Tankstelle als Fluchtwerg kann sie vor dem Ende ihrer Unschuld bewahren, während sie sich in der Hitze des Sommers und einer Welt voller Widersprüche verlieren.

Fasziniert vom Zirpen der Grillen verirrt sich auch Regisseur Philip Gröning in dieser goldenen Sommerwelt, in der es keine Regeln und Gesetze zu geben scheint. Außerhalb jeglicher Konventionen bewegen sich Elena und Robert. Sie sind bereit, Grenzen zu überschreiten und das Alte umzuwerfen. Sie provozieren es geradezu aus Neugier, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen ihres Handelns zu verschwenden. Die anstehende Abiturarbeit schwebt unheilvoll wie ein Damoklesschwert über ihnen. Der Countdown läuft und dennoch gelingt es den Jugendlichen, sich des omnipräsenten Drucks zu entziehen. So reden sie, überlegen und denken miteinander nach. Ihre Gedanken visualisiert Philip Kröning mitunter wortwörtlich und schafft damit einen Film, der all seine Behauptungen wagemutig selbst ausprobiert.

Das Scheitern ist dabei genauso selbstverständlich wie der Erfolg. Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot schreckt nicht vor dem Risiko zurück. Stattdessen entdeckt der Film in der Gefahr, in der Versuchung seine Freude und findet im gleichen Atemzug schmerzend ehrliche Momente. Elena und Robert müssen sich nichts vormachen, selbst wenn in 48 Stunden der größte Beweis von ihnen gefordert wird. Versunken in Kornfeldern dürfen sie selbst hinterfragen und von möglichen Antworten gänzlich unbeeindruckt sein. Eine eigenwillige, hypnotisierende Atmosphäre dominiert die Geschichte, die schon bald eine verstörende Wendung nimmt, wenn das Drehbuch von Sabine Timoteo und Philip Gröning eine Entscheidung trifft, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt, ähnlich wie die Notiz, die mittels Kugelschreiber in einem Schulbuch verewigt wurde.

Mit Bleistift schreibt hier niemand, der Radiergummi ist machtlos. Das ist der Preis der Freiheit, die Elena und Robert in ihren letzten Stunden genießen, bevor sich alles ändert. Dann kommt der Punkt, wo sich das Wochenende dem Ende neigt und die Sehnsucht an den Beginn dieses überaus sinnlich inszenierten Films zunehmend größer wird. Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot bewegt sich an einen düsteren Ort, an dem sich zerstörerische Kräfte im Wettlauf gegen die Zeit vereinen, bis Philip Gröning die Kontrolle über sein Monstrum von Film verliert, das er heraufbeschworen hat. Womöglich war dieser Kontrollverlust jedoch von Anfang an unabwendbar. Was bleibt, ist ein mulmiges Gefühl, höchstwahrscheinlich das mulmigste des gesamten Kinojahres. Allein dafür lohnt es sich, den Zerfall der Zeit zu erleben.

Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot © W-Film