Die Tribute von Panem geht weiter – mit einer Vorgeschichte, die den Bösewicht der Reihe in einen tragischen Helden verwandelt. Bei der Pressekonferenz anlässlich der Europapremiere in Berlin stellten Regisseur Francis Lawrence und sein Team den Film vor.
Zwischen New York, London und „irgendwo in Frankreich“ ist die wichtigste Entscheidung von The Ballad of Songbirds & Snakes gefallen. Regisseur Francis Lawrence saß während der Pandemie in einem Zoom-Call mit den Schauspieler:innen, von denen er hoffte, dass sie den neuen Die Tribute von Panem-Film anführen werden: Rachel Zegler und Tom Blyth. Ein letzter Chemie-Test sollte über das Casting entscheiden. Die Distanz zwischen den beiden hätte kaum größer sein können, doch dann passierte etwas Magisches.
„Ich fragte Rachel, ob sie einen Song singen kann, den ich liebe und der sehr gut zum Ton der Musik im Film passt“, erinnert sich Lawrence. „Wie sie sang und wie er ihr dabei zusah – da wusste ich, dass die beiden zusammenpassen.“ Ausgesucht hatte sich Lawrence den Folksong Wildwood Flower, der 1920 durch die Country-Gruppe Carter Family berühmt wurde. „[Rachel] lieferte die schönste Cover-Version ab“, schwärmt Lawrence. „Das war ein magischer Moment.“ Die Stars der neuen Hungerspiele waren gefunden.
64 Jahre vor Katniss Everdeen: The Ballad of Songbirds & Snakes erzählt die Geschichte des jungen Corionalus Snow
2012 kam der erste Teil von Die Tribute von Panem ins Kino. Die Verfilmung der gleichnamigen Buchvorlage von Suzanne Collins verwandelte sich in ein popkulturelles Phänomen und setzte Jennifer Lawrence auf Hollywoods A-Liste. In vier Filmen tauchen wir ein in den fiktiven Staat Panem, der sich aus zwölf Distrikten zusammensetzt und von einem faschistischen System regiert wird. Um den Funken der Revolution im Keim zu ersticken, werden jedes Jahr die sogenannten Hungerspiele ausgetragen, bei denen jeweils zwei Vertreter:innen aus den zwölf Distrikten gegeneinander antreten. Der Funken der Revolution springt trotzdem über: Die von Lawrence verkörperte Katniss Everdeen bringt das Kapitol und seinen Anführer zu Fall, namentlich Coriolanus Snow.Acht Jahre nach dem Ende der Originalreihe dreht The Ballad of Songbirds & Snakes die Zeit zurück, um herauszufinden, wie aus einem jungen Mann, der Katniss Everdeen einst gar nicht so unähnlich war, ein Diktator wurde. Bis Lawrence den perfekten Schauspieler für die zuvor von Donald Sutherland verkörperte Rolle gefunden hatte, sollte einige Zeit vergehen. „Wir haben uns sehr viele Leute angeschaut. Und dann kam [Tom] aus dem Nichts. Ich war in einem Zug auf dem Weg nach Duisburg, um Drehorte zu finden. Da hat mich eine Aufnahme seines Vorsprechens umgehauen.“ Es waren nicht nur seine blauen Augen, die Blyth als Sutherlands Nachfolger/ Vorgänger qualifizierten. „Er verfügte auch über die nötige Raffinesse und Intelligenz.“
Tom Blyth stand im Alter von 14 Jahren das erste Mal vor der Kamera – als wilder Junge in Ridley Scotts Robin Hood. In den vergangenen Jahren übernahm er die Hauptrolle in der Western-Serie Billy the Kid und einen Part in Terence Davies letzter Regiearbeit, Benediction. Vor dem Chemie-Test mit Zegler wurde er trotzdem nervös. „Als wir den Call hatten, herrschte in New York eine gewaltige Hitzewelle. Ich schwitzte und sagte, dass meine Klimaanlage nicht funktioniert, aber ich dennoch mein Bestes gebe“, berichtet er. „Rachel fing an zu singen und ich habe alles um mich herum vergessen.“ In diesem Moment verstand Blyth einen entscheidenden Punkt in Snows Geschichte.
„Sobald er Lucy Gray trifft, verdrängt ihr Gesang sämtlichen Lärm. Alles ergibt auf einmal Sinn und er will für sie kämpfen. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er selbstlos handelt – zumindest so selbstlos, wie er es für Snow-Verhältnisse kann.“ Damit diese Verbindung auf der Leinwand glaubhaft wirkt, braucht es großes Vertrauen hinter den Kulissen. Zegler erklärt: „Man kann die Chemie [zwischen zwei Schauspielenden] nicht vortäuschen. Es muss ganz natürlich kommen. Wenn man sich [beim Dreh] nicht wohlfühlt, ist das unmöglich. Und es ist sehr schwer, Menschen zu finden, bei denen man sich wohlfühlt. Mit Tom hat es aber sofort geklappt.“
Die Musik des Widerstands: Rachel Zeglers schreibt als Lucy Gray Baird den Revolutions-Song The Hanging Tree
Rachel Zegler, die große Entdeckung aus Steven Spielbergs West Side Story, war von Anfang an die erste Wahl für die Rolle der rebellischen und musikalisch begabten Lucy Gray Baird, die 64 Jahre vor Katniss Everdeen als Tributin für Distrikt 12 die Hungerspiele bestreitet. Lawrence berichtet von einem Treffen mit Zegler in London, das auf eine Stunde angesetzt war und in einem vierstündigen Austausch endete. „Wir haben über das Buch, die Figur und die Musik gesprochen. Auch einige Tränen sind geflossen.“ Besonders die Musik ist ein wichtiger Bestandteil von The Ballad of Songbirds & Snakes – mehr noch als in den vorherigen Filmen, die den gänsehauterregende Revolutions-Song The Hanging Tree hervorgebracht haben. Jetzt erfahren wir seine tragische Entstehungsgeschichte. Denn geschrieben wurde er von Lucy Gray Baird.„Ich hatte großes Glück, in eine Produktion zu kommen, die in ihrem Umgang mit Musik so selbstbewusst war“, erzählt Zegler begeistert. „Beim Schreiben des Drehbuchs hat sich Francis mit Suzanne Collins zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie die Songs klingen sollen. In Dave Cobb haben wir einen unglaublichen Produzenten gefunden, der mit Suzannes Notizen weitergearbeitet hat.“ Insgesamt acht Songs hat Zegler für The Ballad of Songbrids & Snakes eingesungen, darunter eine neue Version von The Hanging Tree. „Bei der Aufnahme war eine gewisse Anspannung zu spüren, da wir die Entstehung von etwas beleuchten, das später ganz ikonisch wird.“ In der Zeit, in der die Geschichte des Prequels angesiedelt ist, hat sich das Lied jedoch noch nicht in den einzelnen Distrikten von Panem verbreitet.
„Wir schauen [Lucy Gray] in Echtzeit dabei zu, wie sie den Song schreibt. Sie verarbeitet darin, was sie bei den Hungerspielen erlebt hat. Wie viele andere große Songwriter versucht sie, ihr Trauma durch die Musik zu verarbeiten.“ Zuerst musste Zegler allerdings ihre eigene Stimme als Lucy Gray Baird finden. Schon vor ihrem phänomenalen Leinwanddebüt in West Side Story wirkte sie u.a. in Musical-Produktionen von Beauty and the Beast, Les Misérables und Shrek (!) mit. Bei The Ballad of Songbirds & Snakes wollte sie etwas Neues ausprobieren und hat sich mit Sprech- und Gesangstrainerin Tanera Marshall zusammengetan. Zeglers Gesang erweitert den Film um eine spannende Ebene. Selbst das Kapitol kann sich ihrer Stimme nicht entziehen.
Das Beeindruckendste: Sie hat alle Songs am Set live gesungen. Für gewöhnlich wird bei Dreharbeiten Material genutzt, das zuvor mit den Schauspielenden im Tonstudio aufgenommen wurde. Nicht so bei The Ballad of Songbirds & Snakes. Zegler ist all in gegangen und hat Lucy Grays Lieder mit ihrer Stimme vor laufender Kamera zum Leben erweckt. Oder wie es Produzentin Nina Jacobson formuliert: „Rachel ist ein Tier und wollte unbedingt live performen. Jedes Mal, wenn ihr sie auf der Leinwand singen seht, hat sie das wirklich getan – wie auf einer Bühne vor unserem Cast und der Crew. Es war umwerfend und hat alle bewegt. Immer wieder. Normalerweise nutzt sich das irgendwann ab, aber nicht, wenn jemand mit so einer Stimme singt.“
Der heimliche Star von The Ballad of Songbirds & Snakes: Wie Uli Hanisch Berlin in das Kapitol verwandelt hat
Der Sprung in die Vergangenheit bringt uns nicht nur zum Ursprung von The Hanging Tree. Auch die Entstehung des Kapitols wird in The Ballad of Songbirds & Snakes beleuchtet. Nach einem düsteren Prolog in den Kriegsruinen bewegen wir uns durch eine dystopische Welt, die vom Berlin der 1950er und 1960er Jahre inspiriert wurde. Produktionsdesigner Uli Hanisch beschreibt die Idee dahinter: „Das Kapitol kann man gut mit Berlin vergleichen. Wir befinden uns 15 Jahre nach einem Krieg. Einem Bürgerkrieg, der die Zerstörung in die Stadt hineingetragen hat und einen Wiederaufbau mit sich bringt. Eine Stadt, die im Begriff ist, sich neu zu erfinden, sich selbst zu finden und überhaupt eine Form zu finden. Eine Stadt, die zwischen Bedrohung, Einschüchterung und Verführung hin- und herpendelt.“Hanisch hat im Studio Babelsberg bereits die 1920er und 1930er Jahre von Babylon Berlin zum Leben erweckt. Auch bei The Ballad of Songbirds & Snakes schöpfte er in vollen Zügen aus der Geschichte der Stadt. „In Berlin haben wir die ideale Umgebung gefunden, weil wir hier in den Bauwerken das Kaiserreich, das Dritte Reich und die DDR vorfinden, kombinieren und verbinden können.“ Bereits die beiden vorherigen Panem-Filme nutzten die Hauptstadt als Kulisse. Dieses Mal erscheint u.a. die Karl-Marx-Allee als Trümmerfeld, der Britzer Garten als riesiger Käfig und die Museumsinsel als Zentrum des Kapitols, ganz zu schweigen vom Olympiastadion, das den Eingang zur Arena der Hungerspiele markiert. Die Arena selbst befindet sich allerdings nicht in Deutschland, sondern in Breslau, Polen.
Dort haben im Juli 2022 die Dreharbeiten angefangen, ehe die Produktion im August nach Deutschland wechselte. „Wir haben unglaubliche Locations in Köln, Düsseldorf und Duisburg gefunden. Berlin war aber der Ort, der am besten zum Kapitol passt. Hier konnten wir uns auf die Ära des Wiederaufbaus nach dem Krieg konzentrieren. Die Architektur der Stadt hat uns die Möglichkeiten geboten, die wir gesucht haben“, gibt Lawrence zu Protokoll. Ungewöhnlich für einen Blockbuster dieser Größenordnung: The Ballad of Songbirds & Snakes hat fast komplett auf Studiobauten verzichtet. Ein Großteil des Films wurde an echten Schauplätzen gedreht, die – je nach Bedarf – digital erweitert wurden. „Bei einer fiktiven Welt ist es wichtig, sie in etwas Echtem zu verankern, damit sie glaubhaft wirkt“, fügt Hanisch hinzu.
„Das einzige Set, das wir vollständig auf einer Soundstage erreicht haben, war das Apartment der Snows“, verrät er. „Wir hatten uns einen ganz eigenen Look dafür ausgedacht, mit bestimmten Formen und Materialien. Deswegen mussten wir alles selbst designen und bauen. Aber das war das Einzige, das wir im Studio errichtet haben. Alles andere sind echte Orte.“ Der Greenscreen-Einsatz belief sich auf ein Minium, ganz zur Erleichterung von Blyth. „Ich hatte eine völlig falsche Vorstellung von der Produktion. Ein großer Film, eine große Welt. Viele Monster und andere Dinge, die Dr. Goul im Kapitol züchtet. Also dachte ich, es gibt sehr viele Greenscreens“, gesteht der Coriolanus Snow-Darsteller. „Alle Sets fühlten sich aber greifbar und echt an. Es war, als hätte man wirklich das Kapitol betreten. Das ist ein Testament an die Arbeit der Crew.“
Die Zukunft der Panem-Reihe ist ungewiss, aber Francis Lawrence hat die Revolution noch nicht hinter sich gelassen
Wie geht die Geschichte weiter? Lawrence hat vier der fünf Panem-Filme gedreht. „Ich bekomme ständig die Frage gestellt, zu welcher Figur ich gerne noch einen Film machen würde“, sagt er am Ende der Pressekonferenz in Berlin. „Die Haymitch-Spiele, die Finnick-Spiele … das sind die Fan-Favoriten. Aber die Wahrheit ist: Ohne die Themen, mit denen Suzanne die Geschichte auflädt, wäre die Reihe nicht so großartig. Die ersten Teile beschäftigen sich mit den Konsequenzen des Krieges. [In The Ballad of Songbirds & Snakes] geht es um die Frage, wer wir als Menschen wirklich sind. Sind wir brutal und wild? Oder gut und setzen uns für den Frieden ein? Das ist der Kern der Geschichte. Wenn sie eine neue Idee, ein weiteres relevantes Thema findet, über das sie schreiben will, dann bin ich zu 100 Prozent wieder dabei. Aber das hängt von ihr ab.“
The Ballad of Songbirds & Snakes startet am 16. November 2023 im Kino.
Beitragsbilder: The Ballad of Songbirds & Snakes © Leonine/Lionsgate
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