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The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes – Kritik

Verzweifelt blickt er in die Baumkronen. Kaltes Licht bricht durch die Äste. Das Bild dreht sich im Kreis. Gerade war sie da. Jetzt hat er sie verloren. Rasend tasten die Augen des jungen Coriolanus Snow (Tom Blyth) die Umgebung ab. Doch von Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) entdeckt er keine Spur. Der Ort, der eben noch Zuflucht bot, verwandelt sich in ein klaustrophobisches Labyrinth, in dem die Spotttölpel singen. Doch er kann sie nicht verstehen. Coriolanus Snow zittert und zerbricht, allein im Wald. Genau in diesem Augenblick erleben wir die Geburtsstunde eines der beängstigenden Bösewichte, den die Popkultur in den vergangenen Jahren im Blockbuster-Kino hervorgebracht hat.

Der Ausgang der Geschichte ist von Anfang an klar: In vier Hunger Games-Filmen konnten wir Snows Schreckensherrschaft als diktatorischer Präsident des Staates Panem bezeugen. Snow ist ein abgrundtief böser Mensch. Daran besteht nach mehreren Ausgaben der Hungerspiele, in denen er Unschuldige vor laufender Kamera in einen Kampf auf Leben und Tod schickt, kein Zweifel. Trotzdem dreht The Ballad of Songbirds & Snakes, der neueste Film aus dem Hunger Games-Universum, die Zeit zurück, um diese Annahme einem prüfenden Blick zu unterziehen. 64 Jahre vor Katniss Everdeen lernen wir einen ehrgeizigen Studenten kennen, der selbst unter dem Kapitol leidet.

Eine dermaßen abgründige Figur zum Helden der Geschichte zu machen, ist ein Wagnis, besonders, wenn es sich um eine Reihe handelt, in der die Grenzen zwischen knallharter Dystopie und tragischer Liebesgeschichte verschwimmen. Bereits die ersten Hunger Games-Filme mit Jennifer Lawrence balancieren bemerkenswert auf dem schmalen Grat zwischen den Young-Adult-Elementen von Suzanne Collins‘ Romanvorlage und dem politischen Zündstoff, der vom ersten Funken bis zum alles verschlingenden Feuer alle Stationen der Revolution mitnimmt – und zwar mit einem äußerst ambivalenten Verhältnis zur Frage, wer in dieser Welt wirklich die Guten sind.

Diese Ambivalenz geht in The Ballad of Songbirds & Snakes nicht verloren. Michael Lesslie und Michael Arndt, die Drehbuchautoren des Films, filtern aus Collins‘ 500 Seiten starken Vorlage einen niederschmetternden Sci-Fi-Thriller, der gleichzeitig wie ein schockierender Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft wirkt. The Ballad of Songbirds & Snakes pendelt nicht nur auf erzählerischer Ebene zwischen den Zeitebenen der Panem-Saga, sondern erweist sich auch in seiner visuellen Gestaltung als kluge Neuerfindung der aus den vorherigen Hunger Games-Filmen etablierten Ästhetik – geerdet im wiederaufgebauten Berlin der 1950er und 1960er Jahre.

Francis Lawrence, der die Reihe seit dem zweiten Teil als Regisseur lenkt, führt uns durch Kriegsruinen und die prächtigen Bauten des Kapitols, ehe in der Arena der zehnten Hungerspiele die unterschiedlichen Lager dieser düsteren Zukunftsvision kollidieren. Die mächtige Kuppel der Arena, in der alle zwölf Distrikte des vermeintlich vereinten Panems zusammenlaufen, explodiert in tausend Trümmerteile. Der Propaganda, die Soldaten in Friedenswächter verwandelt, kann jedoch nicht einmal die brutalste Gewaltspitze widersprechen. Angst und Schrecken als Normalzustand in einer Welt, die Menschen völlig selbstverständlich in Käfigen vor Publikum ausstellt.

Unsicherheit und Unterdrückung ziehen sich durch alle Schichten von Panem. In The Ballad of Songbirds & Snakes gibt es kaum eine Figur, der es vergönnt ist, sich gemütlich in nur eine Richtung zu entwickeln. Die diabolische Spielmacherin Dr. Volumnia Gaul (Viola Davis) ist eine der wenigen Ausnahmen. Selbst das aufgedrehte Propaganda-Sprachrohr Lucretius „Lucky“ Flickerman (Jason Schwartzmann) und Casca Highbottom (Peter Dinklage), der Erfinder der Hungerspiele, können ihr Unbehagen in einzelnen Situation nicht verbergen, obwohl im Staate Panem alles darum geht, die Fassade zu wahren. Ein Fehltritt und sie werden als Bauernopfer vorgeführt.

Kameramann Jo Willems bringt uns sehr nah an die Gesichter der Hadernden heran, verzieht mit Weitwinkelobjektiven die Umgebung und fördert den Zwiespalt der Figuren zutage. Richtig spannend wird das, wenn sich die Kamera in Tom Blyths Gesicht verliert, der problemlos als der gutaussehende Held einer Jugendbuch-Geschichte à la Twilight durchgeht. Trotzdem zwingt uns das Wissen um den Werdegang seiner Figur, den Tatendrang in seinen Blicken genau zu studieren. Ab einem gewissen Punkt ist jede Begegnung zwischen Snow und seinen treusten Weggefährt:innen, Tigris Snow (Hunter Schafer) und Sejanus Plinth (Josh Andrés Rivera), herzzerreißend.

Die verblüffendste Figur der Geschichte ist jedoch eine andere: Lucy Gray Baird. Snow soll als Mentor die Tributin aus Distrikt 12 in ein Spektakel verwandeln, egal, ob sie stirbt oder nicht. Anstelle sie im Käfig auszustellen, stellt er sich jedoch direkt neben sie und bricht alle Regeln. Die Vertrauensfrage ist für Lucy Gray damit allerdings nicht geklärt. Sie kommt aus einer Welt, die sich nicht mehr vom Kapitol unterscheiden könnte und sagt, was sie denkt. Lucy Gray verwandelt ihre Gefühle und Erfahrungen in Lieder und erweitert das reiche musikalische Vermächtnis der Hunger Games-Reihe – maßgeblich gestaltet von Komponist James Newton Howard – um nachdenkliche Töne.

Rachel Zegler ist der größte Star des Films und eine unglaubliche Leinwandpräsenz. Mehr noch als in ihrem Leinwanddebüt, Steven Spielbergs meisterhafte Neuverfilmung des Musical-Klassikers West Side Story, kann sie in The Ballad of Songbirds & Snakes aus sich herausgehen und auf alle ihre Talente zurückgreifen. Zegler verwandelt ihr inneres Theater Kid in eine heimliche Revolutionsheldin, die mit ihrer Musik das Fundament für den Umsturz legt, der später von Katniss Everdeen durchgeführt wird. Obwohl Lucy Gray Baird nicht in den Geschichtsbüchern Panems auftaucht, wird sie Snow für immer verfolgen, ohne dass er ihr entkommen kann.

Nachdem The Ballad of Songbirds & Snakes in seinen ersten zwei Akten viele bekannte Stationen aus den Vorgängern variiert, wagt sich der Film im dritten Akt in unbekanntes Terrain, wo er seine dramaturgischen Stärken ausspielen kann. Ein neues Hungerspiel- Level, das zuvor noch keine Figur erreicht hat. Der Bösewicht wird in Schmerz und Verunsicherung geboren. Am Ende ist die Wahl des Kapitols der einfachere Ausweg aus seinem Dilemma. Eine Ordnung, die er unterstützen und letztendlich sogar kontrollieren kann, befreit ihn von der Bürde des Widerstands. Jede Erinnerung an Sejanus, Tigris und Lucy Gray führt ihm sein Versagen und den fehlenden Mut vor Augen.

Und dennoch gibt es in den letzten Minuten von The Ballad of Songbirds & Snakes eine Reihe von Szenen, die ineinander übergehen, als würde Snows Masterplan aufgehen – als hätte er (unterbewusst) auf dieses vernichtende Finale hingearbeitet. Jedes Opfer ein zielgerichteter Schachzug: Als Präsident von Panem wird er sagen, dass er trotz aller offensichtlicher Grausamkeit, die von ihm ausgeht, nie überflüssiges Blut vergießen würde. Ein Satz, der uns jede seiner Handlungen hinterfragen lässt. Wird der Bösewicht Snow wirklich erst im tragischen Paukenschlag seiner Vorgeschichte geboren oder hat er schon den ganzen Film über existiert? Es ist unheimlich.

„Snow always lands on top“, lautet das mehrdeutige Motto der Snow-Familie. Zuerst fällt es im rebellischen Ton, bevor es seinen unterdrückenden Charakter offenbart. Nur Lucy Gray entwischt der betäubenden Schneedecke, die sich über Panem legt. Bis in den Abspann hallen ihre Worte nach, konkret in Form von Olivia Rodrigos Titelsong, der The Ballad of Songbirds & Snakes mitreißend und poetisch zu Ende führt. Hier setzt die Reihe eine schöne Tradition fort: Während Taylor Swift mit ihrem Titelsong Safe & Sound den ersten Film 2012 ausklingen ließ, haben die Hungerspiele in Rodrigo den aufsteigenden Star der neuen Generation der Pop-Musik für sich gewonnen.

„You can’t catch me now. I’m higher than the hopes that you brought down“, singt Rodrigo im Refrain ihres packenden Songs, der die Bilder des hilflos im Wald stehenden Coriolanus Snow zurückbringt. In den Baumkronen sucht er nach der Stimme, die ihm nicht aus dem Kopf geht. Es ist eine der stärksten Brücken, die das Prequel zu den vorherigen Filmen schlägt, in denen sich die Rebellierenden in den Bäumen verstecken, als würden sie Lucy Grays Vermächtnis weitertragen. Nicht zuletzt ist sie es, die das Lied geschrieben hat, das jahrzehnte später die zwölf Distrikte in Panems dunkelster Stunde gegen das Kapitol vereint: The Hanging Tree. Snow wird Lucy Gray niemals fassen.

Wenige Franchises haben sich nach ihrem ursprünglichen Lauf dermaßen eindrucksvoll neu erfunden wie The Hunger Games. In einer Zeit, in der viele große Filmreihen selbst nach mehreren Anläufen keine Ahnung haben, was sie außer beliebten Figuren zurückbringen sollen, erweist sich The Ballad of Songbirds & Snakes als überlegte, erfrischende und dynamisch inszenierte Erweiterung des Panem-Kosmos. Vom Szenenbild über die musikalische Gestaltung bis zur ungemütlichen Charakterstudie: Unter der Regie von Lawrence ist einer der raren Blockbuster entstanden, deren thematische Entschlossenheit sich bis ins kleinste Detail in der Produktion erstreckt.

Beitragsbild: The Ballad of Songbirds & Snakes © Leonine/Lionsgate