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West Side Story – Kritik

Eine Abrissbirne schwebt bedrohlich über den Boden von New York. Riesige, hoffnungslose Trümmerhaufen künden von ihrem Werk. Staub und Schutt – und plötzlich eine Bewegung, die alles aufwirbelt, was zuvor zur Ruhe gekommen war. Durch eine Luke strömen die Jets aus dem Untergrund der Stadt an die Oberfläche und erobern die Straßen. Sie singen und tanzen leichtfüßig durch ein Viertel, das sich im Wandel befindet. Mit jedem Schritt beanspruchen sie mehr von dem urbanen Raum, in dem ebenfalls die Sharks zu Hause sind. Doch eine Heimat will keine der rivalisierenden Gangs dem jeweiligen Gegenüber zugestehen, sodass auf einer trostlosen Brache die Fäuste fliegen. Der aufgewirbelte Staub vereint sich mit Schweiß und Blut.

West Side Story, die Neuverfilmung des gleichnamigen Musical-Klassikers, beginnt mit vertrauten Gesten. Dennoch versprüht Steven Spielbergs Version ein Gefühl voller Neugier, als wäre die Geschichte noch nie erzählt worden. Wo Robert Wise und Jerome Robbins, die das Bühnenstück 1961 erstmals fürs Kino adaptierten, ein einengendes, stickiges New York schufen, in dem Zäune, Gitter und der harte Asphalt dominieren, herrscht 60 Jahre später eine andere Stimmung. Die Zäune und Gitter sorgen zwar auch bei Spielberg für eine beklemmende Stimmung. Sobald seine Figuren aber über den Asphalt laufen, bewegen sie sich in einem Licht, das etwas Frisches ausstrahlt und sich gleichzeitig wie eine Erinnerung anfühlt.

Die West Side Story anno 2021 tauscht die vollen, satten Farben der ersten Verfilmung gegen einen vibrierenden Look, der kalt und wärmend zugleich ist. Mal sorgen überlebensgroße Schatten für einen Schauer, wenn sie gespenstisch in den Raum hineinragen und das bevorstehende Leid einer schicksalhaften Nacht vorwegnehmen. Mal verblüfft ein gelbes Kleid, das trotz dem angestauten Hass, den zerschmetterten Träumen und dem erlebten Schmerz einen ganzen Straßenblock zum Leben erweckt, als würde sich das Grau der Stadt in eine Blumenwiese verwandeln. Und dann sind da die Momente, in denen Janusz Kamińskis Kamera behutsam in die Hinterhöfe späht.

Silhouetten von Feuerleitern, halb geöffnete Fenster und magische Lichter, die von den vielen Leben erzählen, die wir nur im Vorübergehen streifen: West Side Story ist ein atemberaubender Streifzug durch das New York der 1950er Jahre und profitiert extrem von dem eingespielten Team hinter dem Projekt. Spielberg und Kamiński perfektionieren die feine Filmsprache, mit der sie sich bereits historischen Stoffen wie Bridge of Spies und The Post angenähert haben. Lichtdurchflutete Bilder und formvollendete Bewegungen: West Side Story schließt nahtlos an die Ästhetik der letzten Spielberg-Filme an und reiht eine überwältigende Musical-Sequenz an die andere.

Die Choreographien steigern sich beeindruckend bis zur großen America-Nummer, die Spielberg in einen wunderschönen Sturm verwandelt, der durch die Straßen fegt. Ein spannender Kontrast zu Wise und Robbins, bei denen sich die Puerto-Ricaner:innen zurückgezogen über den Dächern der Stadt im Violett der Dämmerung den amerikanischen Traum vorstellten. Bei Spielberg hinterlassen sie ihren Fußabdruck bei Tageslicht in einer energiegeladenen Sequenz, die neben der Ambivalenz des Songs ebenfalls die Zeitlosigkeit der Geschichte betont. West Side Story bewegt sich zwar in der Vergangenheit, doch Tony Kushners Drehbuch steckt voller nachdenklicher Zwischentöne, die unsere Gegenwart reflektieren.

Liebe, die sich über Grenzen hinwegsetzt, schlussendlich aber an einer Realität zerschellt, in der das Fremde ausgegrenzt wird: In seinen Grundzügen hat Kushner das Original – geschaffen von Leonard Bernstein (Musik), Stephen Sondheim (Text) und Arthur Laurents (Buch) – nicht verändert. Dennoch wartet seine Interpretation des Stoffs mit einigen Neuerungen auf. Die Geschichte wird teils an andere Schauplätze verlagert, die Reihenfolge von Songs vertauscht. Figuren treffen in anderen Konstellationen aufeinander oder werden umgedeutet. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist Rita Morenos Valentina, die den Platz von Doc, dem Besitzer des zentralen Drugstores einnimmt und die Rolle um eine zusätzliche Ebene bereichert.

Moreno war 1961 als Anita in West Side Story zu sehen und stimmte im Kreis der Puerto-Ricaner:innen die zwiespältige America-Hymne an. Jetzt spielt sie eine Figur, die zwischen den Jets und den Sharks steht und – zumindest für einen kostbaren Augenblick – die Differenzen der verfeindeten Parteien überwindet. Kushner involviert Moreno sogar direkt als Übersetzerin und erweitert den Klang von Bernsteins Kompositionen und Sondheims Liedtexten um spanische Dialoge, die sich im ganzen Film ausbreiten und auf Untertitel verzichten. Die Sprachen gehen fließend ineinander über, ohne uns Zuschauende abzuhängen. Ein Zeugnis für Spielbergs Inszenierung: West Side Story ist ein unglaublich intuitiver Film.

Seit einer gefühlten Ewigkeit spricht der größte Träumer des Blockbuster-Kinos davon, ein Musical zu drehen. Dieser Hunger und diese Lust sind in jedem einzelnen Frame von West Side Story zu spüren. Jahrelang schlummerte der Film im Verborgenen. Nun wird er mit der Schaffenskraft eines Großmeisters entfesselt. Mitreißend und elegant bannt Spielberg die Geschichte auf die Leinwand, verbeugt sich vor existierenden Versionen und fügt subtil eigene Akzente hinzu. West Side Story, dynamisch durch den Schnitt von Sarah Broshar und Michael Kahn zusammengehalten, ist eine werkgetreue Umsetzung und trägt trotzdem Spielbergs unverkennbare Handschrift.

Das Sentimentale und das Profunde schließen sich bei ihm nicht aus. West Side Story balanciert mühelos zwischen überspitzten und feinfühligen Szenen, während die schwungvollen Choreografien von Justin Beck, bekannt für seine Arbeit beim New York City Ballett, die unbeschreibliche Tragik befeuern. Beck schleust genauso viel Begeisterung für Bewegung in den Film wie Spielberg und Kamiński, sodass ein rasender Schleier aus Kostümen und Kulissen entsteht. Und plötzlich ein Moment des Stillstands, aber nur in einem Teil des Bildes: Während die Menge im Ballsaal tanzt, schält sich das staunende, strahlende Gesicht von Rachel Zeglers María heraus.

Sie ist die größte Entdeckung in West Side Story, einem Film, dem es nicht an Talenten vor und hinter der Kamera mangelt. Zegler spielte María bereits mit 16 Jahren in einer Produktion, die vom Bergen Performing Arts Center in New Jersey auf die Beine gestellt wurde. Unter der Regie von Spielberg liefert sie ein phänomenales Kinodebüt ab. Jeder von ihr gesungene Note transportiert eine ansteckende Energie in das detailverliebte New York. Am besten ist sie im Zusammenspiel mit Ariana DeBose, die Teil der Originalbesetzung des Broadway-Überfliegers Hamilton war und die Anita-Rolle von Moreno übernimmt. In beiden Fällen könnte das Casting kaum besser sein.

Weitere Highlights im Ensemble: Mike Faist prügelt sich als Jet-Anführer Riff mit dem fehlgeleiteten Tatendrang eines Halbstarken durch den Film und erhält mit David Alvarez‘ Bernardo einen wütenden Gegenpart. Als Stellvertreter ihrer Gangs geben sie der verheerenden Verzweiflung, die unbändig im Herzen von West Side Story pulsiert, ein Gesicht. Ansel Elgort bringt derweil seine tänzerische Lässigkeit aus Baby Driver mit. Wenn er sich durch das Labyrinth aus Feuerleitern schlängelt, wird deutlich, warum ihn Spielberg als seinen Tony auserkoren hat. Ein Blick in den Hinterhof: Tonight, das sich zärtlich wie verspielt aufbauende Liebesduett zwischen Zeglers María und Elgorts Tony, ist einer der wundervollsten Kinomomente des Jahres.

Beitragsbild: West Side Story © Walt Disney Studios Motion Pictures