Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

West Side Story – Kritik

Amerika. New York. Bereits zur Ouvertüre der Verfilmung von Leonard Bernsteins Musical West Side Story erscheint die Metropole in vagen Umrissen, ehe uns die Kamera direkt über die unzähligen Straßen und Dächer gleiten lässt. Friedlich und geordnet wirkt dieses New York aus der Vogelperspektive, wie eine Miniatur, an der man sich gar nicht satt sehen kann. Auch wenn der graue Beton in seiner Gleichmäßigkeit abschreckt, kündet die Musik von den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Großstadt. Der amerikanische Traum ist lebendig, wenn das Empire State Building in den Himmel ragt.

Doch die Kamera, die uns in die Häuserschluchten hineinführt, weiß wenig von jenen Wolkenkratzern zu berichten, mit denen der Himmel erobert werden kann. Stattdessen tauchen wir in ein Viertel ein, in dem die Häuser dicht an dicht stehen und die Sportplätze von hohen Gitterzäunen umzingelt sind. Unerwartet einengend ist dieses Amerika, das Robert Wise und Jerome Robbins nachfolgend in bewegte Bilder bannen – jeder muss sich seinen Platz erkämpfen. Zuerst ist es ein Schnipsen, mit dem sich die Jets in den verwinkelten Gassen ausbreiten, ihr Revier markieren und Macht demonstrieren.

Aus einer kleinen, unscheinbaren Geste entwickelt sich eine stetig größer werdende Bewegung, bis die einzelnen Mitglieder der Bande als tanzende Welle durch das Viertel rollen und die rivalisierenden Sharks, die aus Puerto Rico zugewandert sind, in ihre Schranken weisen. Wenn in West Side Story der amerikanische Traum zum Leben erwacht, ist von Anfang an klar, dass es nicht nur um Freiheit geht, sondern ebenso um die Ausübung von Macht und die Eroberung von Territorien, sodass sich die Fronten zwischen den Konkurrierenden mit jedem weiteren Schritt verhärten.

Hier trifft eine Generation Halbstarker aufeinander, die sich wahlweise von ihren Eltern oder Träumen im Stich gelassen fühlt, sich diesen Umstand jedoch niemals ehrlich eingestehen kann. Nur mit Hohn und Spott bringen sie das zum Ausdruck, was sie wirklich quält. Aus dem anfänglichen Schnipsen werden schon bald Faustschläge, bevor Messerstiche die bitteren Konsequenzen ihres unüberlegten Handelns zum Ausdruck bringen. Ein Lichtblitz als letzte Warnung – dann passiert das, was niemand wollte und die Straßen, die zu Beginn geordnet wirkten, verwandeln sich endgültig in ein düsteres Labyrinth.

Einsamkeit und Ungewissheit breitet sich aus. Keiner soll sie weinen sehen, die Halbstarken, die über den nassen Asphalt flüchten und erneut in der Enge einer Garage landen, obwohl sie glaubten, die Welt erobert zu haben. Kein Wunder, dass sich immer mehr Frust anstaut und die Coolness schwindet. Währenddessen marschiert das Gesetz in Uniform bis in den Tanzsaal, um mit bösem Blick für Ordnung zu sorgen, verfolgt in Wahrheit aber selbst eine Moral, wie sie fragwürdiger kaum sein könnte. Bei all den perfekt ausgeklügelten Choreographien bleibt somit auch eine gewisse Ambivalenz erhalten.

Aus dem Sonnenlicht ziehen sich die Halbstarken, die in ihren Banden längst nicht so vereint sind, wie sie denken, in die Nacht zurück, verstecken sich in dunklen Ecken und hinter Mauern. Ein Amerika, das auf der Flucht vor der eigenen Zerrissenheit ist, manifestiert sich in den mitreißenden Aufnahmen von West Side Story, die in all ihren Bewegungen zwar durchaus vom Aufbruch künden, insgeheim aber wissen, welch erschütterndes Ende dieser Geschichte bevorsteht. Auf den Tanz in absoluter Unbeschwertheit über den Dächern folgen die Tränen im Schatten der Einsamkeit.

Mit glühenden Farben erzählt West Side Story das Melodram, in dessen Mittelpunkt zwei Liebende stehen, die sogar im trostlosesten aller Hinterhöfe einen Hoffnungsschimmer entdecken und mit ihren Gedanken sämtliche Grenzen überwunden haben, an denen ihre Umgebung zerbricht. Gleich mehrmals brechen Maria (Natalie Wood) und Tony (Richard Beymer) aus diesem umkämpften New York aus und finden sich in ihrer eigenen Welt wieder, wenn die Inszenierung die wilden Bewegungen um sie herum komplett verschwimmen lässt und dadurch eine magische Verbindung zwischen den Liebenden schafft.

Trotz all der niederschmetternden Ereignisse eröffnet West Side Story seinen aufrichtigen Träumern atemberaubende Räume, die keiner Eroberung bedürfen und allein aus Farben, Musik und Emotionen bestehen. Ein unvergleichlicher, bedingungsloser Rausch, der so naiv wie unschuldig scheint, schlussendlich der großen Tragik nicht entkommen kann, die ein überwältigendes Bild von Sprachlosigkeit hinterlässt. Am Ende finden sich die Figuren im spärlichen Licht einer Laterne wieder und verlassen schweigend die Bühne. Kein Schnipsen, kein Tanzen, kein Singen. Stille. Wer will bleiben, in diesem Amerika?

West Side Story © 20th Century Fox/MGM