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Petite Maman – Kritik

Nach dem überwältigenden Portrait of a Lady on Fire wirkt Petite Maman geradezu unscheinbar. Nicht nur fällt der Film mit 72 Minuten Laufzeit deutlich kürzer aus als Céline Sciammas vorheriges Werk. Auch der Umfang scheint auf den ersten Blick kleiner: Die Geschichte erzählt von zwei achtjährigen Mädchen, die sich im Wald begegnen. Dahinter steckt jedoch mehr – sogar eine Zeitreise im goldenen Licht der Herbstsonne. Wie vieles andere in Petite Maman findet das außergewöhnliche Ereignis versteckt zwischen den Zeilen statt, sodass man es zuerst gar nicht bemerkt.

Zuerst ist da allerdings ein Abschied: Die kleine Nelly (Joséphine Sanz) streift durch die Gänge eines Altersheims, in dem ihre Großmutter die letzten Tage ihres Lebens verbracht hat. Danach begibt sie sich mit ihren Eltern (Nina Meurisse und Stéphane Varupenne) auf den Weg zum Haus der Verstorbenen, um es auszuräumen. Kaum beginnt der Streifzug durch die Vergangenheit, erwacht diese heimlich zum Leben. Beim Spielen trifft Nelly auf ein anderes Mädchen, das zufällig den gleichen Namen wie ihre Mutter trägt. Marion (Gabrielle Sanz) wohnt im Haus nebenan, das seltsam vertraut aussieht.

Sorgfältig schaut sich Claire Mathons Kamera in den Zimmern um und zeigt uns eine frühere Version des Hauses, das eigentlich ausgeräumt werden soll. Nelly befindet sich an keinem fremden Ort, sondern jenem, an dem ihre Mutter aufgewachsen ist. Und das Mädchen ihr gegenüber ist niemand Geringeres als Marion in jungen Jahren. Eine unwahrscheinliche Begegnung, die von Sciamma weit abseits der großen Bilder inszeniert wird, die Science-Fiction-Filme für gewöhnlich auffahren, wenn Zukunft und Vergangenheit in einem Raum kollidieren, der nur im Kino möglich ist.

Nelly und Marion treffen zwischen den Zeiten nicht als Tochter und Mutter, sondern als Freundinnen aufeinander. Gemeinsam toben sie durchs Laub, bauen eine Hütte und richten mit purer Begeisterung beim Kochen die größtmögliche Sauerei in der Küche an. Keine überlebensgroßen Konzepte und auch keine komplizierten Erklärungen: Genauso wie sich die Mädchen in ihrer Gemeinsamkeit verlieren, verschwendet Sciamma keine Gedanken daran, das Geschehen zu rechtfertigen. Sie taucht einfach ein in diese magische Welt voller Herbstfarben und verliert sich in einer Schlichtheit, die viele Filme fürchten.

Petite Maman wartet mit einer klaren Filmsprache auf und bringt selbst abstrakte Ideen auf den Punkt, sei es die Musik der Zukunft, die beim Abenteuer in der Natur erklingt, oder der paradoxe Gedanke, dass sich Mutter und Tochter im gleichen Alter begegnen und einen Dialog führen, dessen Echo („You’re not responsible for my sadness“) bis in die Gegenwart reicht. Was ist, wenn wir den Menschen kurz über den Weg laufen, bevor sie für uns zu den Menschen werden, die wir schon immer kennen? Petite Maman entlässt uns mit einem tiefen Verständnis für komplexe Gefühle aus dem Kino.

Beitragsbild: Petite Maman © Alamode Film