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Spider-Man: Across the Spider-Verse – Kritik

Als im Dezember 2018 der erste animierte Spider-Man die große Leinwand eroberte, blitzte zwischen den Häuserschluchten von New York die Zukunft des Animations- und des Superheldenfilms auf. Ausgerechnet die Marvel-Figur, von der wir in den vorherigen Jahren bereits drei (!) verschiedene Versionen (Tobey Maguire, Andrew Garfield und Tom Holland) gesehen haben, entgegnete der sich langsam einschleichenden Gleichgültigkeit gegenüber Comicverfilmungen mit ansteckender Neugier und Innovation. Dank der Zusammenführung unterschiedlichster Animationsstile formulierte Spider-Man: Into the Spider-Verse das bisher aufregendste filmische Äquivalent des Multiversums, das in Comicform schon lange existiert.

Fünf Jahre später ist die Zukunft eingetroffen, die Into the Spider-Verse vorausgesagt hat. Parallel existierenden Dimensionen weichen die zuvor penibel genau markierte Universumsgrenzen bei Marvel, DC und Co. auf. Makellose 3D-Animationen sind nicht mehr en vogue. Stattdessen kollidieren Formen und Farben, als würde man die Gesamtheit gezeichneter Popkultur in Bewegung versetzen. Puss in Boots: The Last Wish hat sich die Spider-Verse-Ästhetik abgeschaut und der vermeintlich toten Shrek-Reihe neues Leben eingehaucht. Ähnliches findet gerade bei den Teenage Mutant Ninja Turtles statt. Selbst Animations-Gigant Pixar verabschiedet sich für Elemental vom unverkennbaren Look seiner vorherigen Filme.

Was hat das Spider-Verse dem hinzuzufügen? Mit Spider-Man: Across the Spider-Verse startet diese Woche der zweite Teil der angekündigten Trilogie im Kino und beweist in gigantischen 140 Minuten, dass das Kreativteam um Autoren-/Produzenten-Duo Phil Lord und Christopher Miller noch einige Ideen auf Lager hat. Angefangen beim herzzerreißenden Auftakt des Films, der dem Multiversum als gedankenlose Wunscherfüllungsmaschine direkt widerspricht. In einer Zeit, in der im Kino nichts mehr unmöglich scheint, verlieren die Figuren alles – sogar einander. Miles (Shameik Moore) und Gwen (Hailee Steinfeld) sind allein, nicht nur aufgrund der Universen, die sie trennen. Sie leben mit einem Geheimnis, das sie niemandem verraten können.

Diese Tragik liegt jeder Spidey-Geschichte zugrunde. Am eindrucksvollsten wurde sie in Sam Raimis Trilogie aus den 2000er Jahren gebündelt, wenn die Bürde des Heldentums auf schmerzlichste Weise mit den Ängsten und Träumen eines Heranwachsenden rangelte. Aus der Coming-of-Age-Geschichte im Gewand eines Action-Blockbusters wurde am Ende ein melodramatisches Epos, das eine Verletzlichkeit erlaubte, die im gegenwärtigen Superheldenkino kaum noch zu finden ist. Across the Spider-Verse steht eindeutig in der Raimi-Tradition und weiß bestens über die Spinnen-DNA Bescheid. Es gibt bestimmte Stationen, um die keiner dieser Filme herumkommt. Sie sind die Säulen der Geschichte – zumindest so lange, bis sie jemand einreißt.

War Into the Spider-Verse in vielen Punkten eine clevere Variation vertrauter Motive, interessiert sich die Fortsetzung vor allem für eine Frage: Was passiert, wenn man komplett mit dem Kanon bricht? Nichts bereitet mehr Sorgen als Unordnung im Multiversum. Mit der Spider-Society stellt uns Across the Spider-Verse eine geheime Gruppe vor, die alles daran setzt, um die eine wahre Spidey-Geschichte zu erhalten, obwohl jedes Mitglied damit seinen eigenen Schmerz besiegelt. Diese Determination spricht Bände, gerade im Hinblick auf den Status quo der Popkultur. Aus Fan-Diskuren und dem durch Wiederholung und Nostalgie geprägten Franchise-Kino spricht nicht selten ein großes Misstrauen, wenn nicht sogar eine Feindlichkeit gegenüber Veränderung.

Genau wie sein Protagonist will Across the Spider-Verse aus dem Kreislauf ausbrechen. Miles kracht durch unzählige Bildebenen auf der Suche nach dem einen Schlupfloch, bevor er erkennt, dass er selbst der Glitch im Multiversum ist. Daniel Pembertons rhythmischer Score gönnt ihm keine Verschnaufpause. Mit angezogenem Tempo und bedrohlichem Tonfall verliert sich der Film in ein Multiversum, das einem in sich zusammenstürzenden Labyrinth gleicht. Ein Strudel aus Figuren, Strukturen und Objekten, mal bis ins kleinste Detail ausgestaltet, mal nur als Skizze zu erahnen. Across the Spider-Verse zerbricht im Sekundentakt in tausend Einzelteile und baut sich zu einem neuen Turm auf. Bebend, wankend. Formvollendet, gekritzelt. Immer in Bewegung.

Es ist atemberaubend, diesem niemals endenden Fluss aus Verwandlungen zu folgen. Ein Schlittern an der Kante des Multiversums. Schwindelerregend. Links und rechts der Abgrund, der in ungeahnte Tiefen führt. Verblüffend ist aber nicht nur der Rausch, der aus den Schnipseln explodierter Comichefte entsteht, sondern auch die emotionale Intelligenz, mit der Lord, Miller und Co. ihre Geschichte erzählen. Der geballte Wahnsinn von Across the Spider-Verse ist tief in den komplexen Gefühlen der Figuren verankert. Niemand wird vor einfache Entscheidungen gestellt. Und das Multiversum mit seinen sich virtuos überlagernden Animationsstil ist ein unglaublich toller Resonanzkörper dafür. Jede Emotion pulsiert auf der Leinwand.

Across the Spider-Verse schlüsselt den Prozess des Filmemachens vor unseren Augen auf. Zwischen Konzeptzeichnungen und fertigen Animationen besteht kein Unterschied mehr. Alles ist ein Dialog, der im Moment des Entstehens geführt wird. Skizzen und Hilfslinien, die durch Körper schimmern. Körper, die sich in Kreise und verschnörkelten Linien auflösen. Zusammengeklaubte Sticker halten verstreute Panels wie einen mitgenommenen Gitarrenkoffer zusammen. Hier eine pointierte Randnotiz, da ein knalliger Schriftzug: Das Spider-Verse lebt von einem unglaublichen Reichtum an Bildinformationen, die sich perfekt im Takt mit der mitreißenden Musik bewegen. Im Bruchteil einer Sekunde wechseln die Lichter und Stimmungen. Intuitives Erzählen.

Im Hintergrund verlaufen Wasserfarben wie Tränen, die Gwen niemals weinen kann. Miles‘ Zerrissenheit flackert in Schemen auf, während er zum einsamsten Spider-Man im Multiversum wird. Es ist gleichermaßen ironische wie poetisch, dass der Versuch, mit den Spidey-Konventionen zu brechen, in einem der besten Spidey-Abenteuer überhaupt mündet. Den Verlust von Freundschaft und Vertrauen hätte Raimi kaum stechender inszenieren können. Gleichzeitig verliert Across the Spider-Verse nichts von der magnetischen Coolness seines Vorgängers, ganz zu schweigen von der bewundernswerten Mischung aus Lässigkeit und Einfühlsamkeit, die jedes einzelne Bild durchdringt. Das Spider-Verse ist seinen Genre-Kollegen immer noch um Lichtjahre voraus.

Beitragsbild: Spider-Man: Across the Spider-Verse © Sony