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Sunset – Kritik

Als hätte sie sich in einem Gesellschaftsroman verirrt, läuft Írisz Leiter (Juli Jakab) durch die Straßen von Budapest im frühen 20. Jahrhundert. Golden leuchtet der Himmel im neuen Film von László Nemes, der vor zwei Jahren mit seinem Holocaust-Drama Son of Saul den Oscar für den Besten fremdsprachigen Film gewinnen konnte. Nun taucht der ungarische Regisseur erneut ein, in die europäische Geschichte, und inszeniert den Vorabend des Ersten Weltkriegs als faszinierende Gratwanderung aus verträumten Sonnenstrahlen und düsteren Schatten. In Sunset werden die Bilder stets von warmen Farben durchdrungen und dennoch lassen sich die Abgründe hinter der formvollendeten Fassade nicht leugnen. Die Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch, klammert sich an selbst auferlegten Regeln und verdrängt damit eigentlich nur, was längst hätte ausgesprochen werden sollen. Auch Írisz treibt es immer wieder in dieses beängstigende Pulverfass zurück – und die Kamera folgt ihr unerschütterlich durch die Menschen, die kurz davor sind, sich in Gewalt zu verlieren.

Zu Beginn erzählt Sunset jedoch eine Geschichte von Aufbruch und Hoffnung, wenn Írisz 1913 in ihre Heimat zurückkehrt, um im Hutmachergeschäft ihrer verstorbenen Eltern Fuß zu fassen. Einen guten Ruf genießt das Unternehmen, das inzwischen von Oskár Brill (Vlad Ivanov) als Inhaber geführt wird und nur die besten Hutmacherinnen des Landes einstellt. Kaum überquert Írisz die Türschwelle, droht die wohl gehütete Ordnung, sich in Chaos aufzulösen. Entgegen der feinen Oberflächen schlummert tief im Innern der Menschen die Erinnerung an das Vergangene, das sich der jungen Protagonistin vorerst als Rätsel, als Geheimnis offenbart. Erst nach und nach findet sie heraus, warum ihre Präsenz für Unruhe sorgt und dass ihre tragische Familiengeschichte mehr als nur eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern ist. Im Gegenteil: Unübersehbar sind die Wunden der Vergangenheit, die plötzlich wieder aufklaffen und ein noch größeres Unheil erwarten lassen. Egal, wie oft Írisz den warnenden wie misstrauischen Blicken entkommt, Budapest will sie trotzdem nicht wieder verlassen.

Auf der Suche nach einem gewissen Kalman Leiter, der angeblich ihr Bruder ist, verschlägt es Írisz in das Labyrinth der Stadt, die zunehmend von einer Staubschicht überzogen wird. Wenn das Sonnenlicht durch die Wolkendecke bricht, verwandelt sich Budapest durchaus in einen magischen Ort. Sobald die Lichtquellen aber verschwunden sind, breitet sich eine unheimliche Finsternis aus, die alles verschlingt, auch Írisz, so tapfer und stur sie sich ihren Weg durch die Dunkelheit bahnt. Wie schon in Son of Saul sowie seinen vorherigen Kurzfilmen begleitet László Nemes seine Protagonistin mit langen Einstellungen auf ihrem Weg durch diese Welt. Schönheit und Schrecken vereinen sich dabei in atemberaubend komponierten Bildern, die mit unheimlicher Eleganz durch reich ausgestatteten Kulissen führen. Mehrmals wechselt der Fokus vom Vorder- in den Hintergrund und wieder zurück, als würde Kameramann Mátyás Erdély den Konflikt des Individuums in der zerfallenden Gesellschaft unmittelbar mit seiner Kamera festhalten. Daraus resultiert ebenfalls eine Atmosphäre der Unsicherheit, denn jeden Moment kann die Stimmung kippen.

Heimlich wird im Hintergrund getuschelt, während Írisz in erster Linie kommandierende Worte vernimmt. László Nemes ergänzt seine ausgefeilte Bildsprache mit einem bemerkenswerten Detailreichtum auf der Tonspur. Neben der Musik von László Malis gehören dazu all die kleinen, unscheinbaren Geräusche, die geradezu unnatürlich herausgefiltert werden und eine unangenehme Umgebung schaffen, in der man selbst eine Nadel fallen hören könnte. Írisz wird stets verfolgt von einem Gefühl, beobachtet zu werden, obgleich sie es ist, die sich observierend durch die filmischen Räume bewegt. Mitunter wirkt es so, als würde sie die Lügen ihrer Gegenüber mit Leichtigkeit entlarven und dennoch gibt es da eine Sache, die sich nicht versteht, die ihr zu schaffen macht. Das Verlangen, zum Kern der Wahrheit, zur Wurzel der bösen Erinnerungen vorzudringen, lässt Írisz tiefer und tiefer in der Welt der Schatten versinken, ehe das Licht der Sonne, das den Beginn des Films dominiert, nur noch in der Glut ungezähmter Fackeln zu erahnen ist, deren Flammen alles Leben verschlingen.

Nicht einmal der Regen, der am Ende unerbittlich auf die Erde prasselt und das Niemandsland zwischen den Schützengräben in eine Schlammwüste verwandelt, kann das Erlebte vergessen machen und die Glut zum Erlöschen bringen. Mit der gleichen durchdringenden Kraft, mit der Írisz Augen die Umgebung mustern, gewinnt die Ohnmacht an Gewicht. László Nemes Inszenierung steht dieser Geste in keinem Punkt nacht. Ausgefeilt sind seine Bilder, die hypnotisch ins Gemenge führen, bis die Orientierungslosigkeit gewinnt. Dann rennen die Menschen durch die Straßen, während Írisz gleichermaßen der zerstörerischen Bewegung zu entkommen versucht, wie sie diese befeuert. Sorgfältig eingesetzt wird der Schnitt in diesen mitreißenden Momenten, die den Umbruch auf die große Leinwand bannen und eine Zeitenwende einläuten, die keine Formalie dieser Welt aufhalten könnte. Nur die Kamera bleibt an Írisz’ Rücken kleben, folgt ihr durch den Nebel, bis die Sonne untergegangen ist. Ob sie jemals wieder aufgehen wird, ist fraglich. Denn Sunset versinkt in einem trostlosen Grau, das jegliches Licht verschluckt. Ihren Blick wendet Írisz trotzdem nicht ab.

Sunset © MFA+