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The Book of Henry – Kritik

The Book of Henry beginnt mit filigranen Zeichnungen, die sich über altes Pergament erstrecken und wohl überlegte Konstruktionen offenbaren, als hätte ein akribischer Architekt behutsam seine Erkenntnisse gesammelt und zu Papier gebracht. Sanft und verträumt untermalt Michael Giarcchinos Soundtrack das prächtige Opening des Films, das förmlich den Geist eines aufregenden Bastler-Abenteuers heraufbeschwört, übereifrig in Erinnerung an Stand by Me und The Goonies. Als Coming-of-Age-Film in der Vorstadtidylle stellt sich Colin Trevorrows jüngstes Werk vor, das als Brücke zwischen zwei Mega-Blockbustern fungiert. Nach dem überwältigenden Erfolg von Jurassic World und vor dem Beginn der Dreharbeiten zur neuen Episode des Sternenkriegs wendet sich der ursprünglichen Indie-Regisseur wieder seinen Wurzeln zu und will einen Film ins Kino bringen, der vor Magie sprüht und durch die Augen eines Kindes eine Welt voller Gefahren und Herausforderungen entdeckt. Leider ist The Book of Henry alles andere als eine runde und ihrer Themen angemessenen Angelegenheit geworden.

Besagter Coming-of-Age-Aspekt ist nämlich bloß ein kleiner Teil dieses ausufernden Unterfangens, in dem Naomi Watts als fürsorgliche Mutter im gleichen Atemzug ihren zwei Söhnen eine liebliche Gute-Nacht-Geschichte verliest, wie sie zum Controller ihrer Spielekonsole greift, um bei ihrem Lieblings-Ego-Shooter ein entsetzliches Blutbad anzurichten. Unerwartet ist dieser Kontrast, bringt er die Zerrissenheit von The Book of Henry mit nur wenigen Handgriffen gekonnt auf den Punkt: Colin Trevorrow, der mit einem Drehbuch von Gregg Hurwitz arbeitet, sieht kein Problem darin, gewaltige Gegensätze zu vereinen. Alleine die zwei jugendlichen Protagonisten könnten ungleicher kaum sein. Auf der einen Seite wäre da Henry (Jaeden Lieberher), das 11-jährige Genie der Familie Carpenter, das alles weiß und jedem hilft. Peter (Jacob Tremblay), sein jüngerer Bruder kann da nicht mithalten, sondern entpuppt sich als das naiv-aufrichtige Kind, das mit leuchtenden Augen der zuvor erwähnten Gute-Nacht-Geschichten lauscht. Spielerisch verbindet Colin Treverrow seine konträren Figuren, was durchaus dynamische Elemente zutage fördert.

Problematisch wird es erst, wenn sich The Book of Henry im thematischen Bereich übernimmt und gewaltig verkalkuliert. Denn neben zur abenteuerlichen Erzählung des Erwachsenwerdens gesellt sich schnell ein Drama über Krankheit, Verlust und Tod sowie ein Handlungsstrang, der sich in die düstersten Ecken eines Rear Window-Szenarios wagt. Während Henry aufmerksam die Rechnungen seiner Mutter durchgeht und seinen Bruder in der Schule vor einem Bully beschützt, sorgt er sich ebenfalls um die Nachbarstochter Christina (Maddie Ziegler), die allem Anschein nach von ihrem Vater, Mr. Sickleman (Dean Norris), missbraucht wird. Diese ist zu allem Übel als Police Commissioner im beschaulichen Calvary tätig und verfügt somit über genügend Kontakte, um sich stets rechtzeitig aus der Affäre zu ziehen, wenn Henry mit seinen Möglichkeiten versucht, das Grauen zu entlarven. Anrufe beim Kinderamt verschwinden im Nichts. Henry befindet sich in einer hoffnungslosen Situation und kann trotz seiner sonst so außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht die Welt verändern, da er ständig an Grenzen stößt, die in seinem von Logik durchströmten Kopf keinen Sinn ergeben.

In einzelnen Momenten fängt The Book of Henry sehr gut diese Ohnmacht und Frustration ein, die ein Kind empfinden muss, wenn es mit Dingen konfrontiert wird, die es nicht kontrollieren kann, obgleich sie so offensichtlich falsch sind. Colin Treverrow potenziert dieses Gefühl, indem er Henry als lässiges Genie in den Vordergrund rückt, das den Erwachsenen in seinen Umfeld weit überlegen ist. Dennoch scheitert Henry, der Superheld, daran, die Welt zu retten, ganz egal, wie viele Anweisungen er den Menschen um sich herum gibt, um eine vermeintlich erlösenden Masterplan durchzuführen, den er bis auf das letzte Detail ausgetüftelt hat. Tragisch ist dabei nur, dass The Book of Henry trotz eines Gefühls für die unfassbare Ungerechtigkeit komplett in sich zusammenstürzt, wenn sich die mitunter fragwürdigen (Frauen-)Figuren durch den Genre-Clash bewegen und sich – völlig unvorbereitet – formelhaften Gegebenheiten anpassen müssen. Mit einem Spagat ist es kaum noch zu umschreiben, wie Colin Treverrow mit seiner Inszenierung durch ein Feld verschiedener Stimmungen springt. The Book of Henry will alles auf einmal, stiftet aber lediglich Unmut und Verwirrung.

So angemessen diese Verwirrung (der Gefühle) in Anbetracht der halsbrecherischen Wendungen auch sein mag: In diesem Film fehlt jegliche Grundlage, um die schockierenden Ereignisse begreifbar zu machen, die für Unbeschreibliches verantwortlich sind. Holprig vorgetragen erstaunt es geradezu, dass ein einender Schlusspunkt überhaupt möglich ist. Entgegen aller Erwartung gelingt es The Book of Henry am Ende trotzdem den Kreis (in Form einer Tür) zu schließen und das Chaos dazwischen mit kolportierter Moral zu rechtfertigen, die – so erläutert es ein gereifter Henry aus dem Off – immer wichtiger ist als die Geschichte, sei sie noch so schlecht erzählt. Es wirkt beinahe so, als wollte Colin Treverrow seine zweistündige Irrfahrt auf den letzten Metern entschuldigen – vor allem gegenüber Lee Pace, der als liebenswerter Neurochirurg genauso hilflos wie das Publikum von einer unglücklichen Situation in die andere gerät und gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Bei traurigen Gesichtern macht er sich dennoch Sorgen und klatscht Beifall, wenn es in Anbetracht eines doch noch magischen Schneeregens angemessen ist.

Update, 06. Spetember 2017: Wenige Stunden nach Veröffentlichung dieses Textes wurde von Lucasfilm verkündet, dass Colin Treverrow nicht mehr als Regisseur von Star Wars: Episode IX fungiert.

The Book of Henry © Universal Pictures