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The Irishman – Kritik

Als würde uns Ray Liotta noch einmal durch den Hintereingang eines New Yorker Nachtclubs in die Welt des Verbrechens entführen, beginnt auch The Irishman mit einem eindrucksvollen Tracking Shot. Ganz bewusst wählt Martin Scorsese diesen Einstieg in seinen neusten Film, der sich auf den ersten Blick wie eine geistige Fortsetzung von Goodfellas und Casino anfühlt. Während sich die Kamera elegant durch die Gänge und Räume schlängelt, macht sich eine ungewohnte Stille bemerklich: Es fehlen die Menschen, die Musik und die Energie. The Irishman erzählt vom Ende einer Reise und nimmt sich dafür bemerkenswert viel Zeit, ehe er in einer phänomenalen letzten Stunden mündet.

Zuerst tauchen wir aber noch einmal ein, in eine längst vergangene Zeit, wenn Frank Sheeran (Robert DeNiro) aus dem Off seine Lebensgeschichte erzählt. Basierend auf dem 2004 veröffentlichten Sachbuch I Heard You Paint Houses von Charles Brandt eröffnet The Irishman innerhalb weniger Minuten mehrere Zeitebenen. Mit jedem Schnitt dringen wir ein Stück tiefer in die Geschichte ein. Vor allem bestimmte Orte dienen Martin Scorsese als Brücke, um verschiedene Handlungsstränge miteinander zu verbinden. Sie wirken unscheinbar wie etwa ein einfacher Rastplatz am Wegesrand. Schlussendlich finden hier aber die Begegnungen statt, die ein ganzes Leben prägen sollen.

Im Fall von Frank ist es die Begegnung mit Russell Bufalino (Joe Pesci), einem Mafiaboss, der den Kriegsveteranen von seiner eintönigen Existenz als Lastwagenfahrer erlöst. Fortan erledigt Frank die schmutzigen Geschäfte seines Chefs und steigt in der Welt des organisierten Verbrechens auf, bis er es in den Kreis des einflussreichen Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino) schafft. Frank erlebt den Amerikanischen Traum, während Martin Scorsese zusammen mit Drehbuchautor Steven Zaillian sorgfältig die komplexen Strukturen innerhalb der Mafia offenbart. Nicht selten werden in diesen Augenblicken Erinnerungen an die früheren Werke des Meisterregisseurs wach.

The Irishman gestaltet sich allerdings keineswegs als verklärender Ausflug in die Vergangenheit, bei dem es ausschließlich darum geht, nostalgische Gefühle für ein Kino heraufzubeschwören, das in der gegenwärtigen Filmlandschaft nicht mehr die gleiche Popularität genießt wie anno dazumal. Stattdessen kehrt Martin Scorsese analog zu seinen Figuren an Orte zurück, die sein Schaffen geprägt haben – mit dem Blick eines Filmemachers, der sich weiterentwickelt und gewandelt hat. Besonders das Erzähltempo ist ein anderes: Von der rasenden Geschwindigkeit, mit der Martin Scorsese durch Goodfellas, Casino und jüngst The Wolf of Wall Street führt, ist in The Irishman kaum noch etwas zu entdecken.

Nachdenklich betrachtet Martin Scorsese die wichtigen Stationen seiner Gangsterfilme aus einem neuen Blickwinkel, während er ein beachtliches Ensemble an langjährigen Wegbegleitern um sich herum versammelt hat. Robert De Niro, Al Pacino und der aus dem Ruhestand zurückgekehrte Joe Pesci bilden nur die Spitze des Eisbergs, der sich weiterhin aus Namen wie Harvey Keitel, Ray Romano, Bobby Cannavale, Jack Huston und Stephen Graham zusammensetzt. Mittels digitaler Technologie verjüngt Martin Scorsese seine Schauspieler, um die durch die Dekaden zu schicken. Das Ergebnis überzeugt zwar nicht immer, steht dafür ganz im Zeichen der erzählten Geschichte.

Das Altern und Reifen von Geist und Körper ist ein essentieller Bestandteil von The Irishman, ermöglicht er es, die vonstattengehenden Ereignisse durch unmittelbare Beobachtungen zu reflektieren. Wilde Bilderreigen, die selbst den Fall nach dem Aufstieg in furiosen Montagen illustrieren, existieren hier nicht mehr. Damit bleibt auch die verführerische Sogwirkung aus, wenngleich sich Robert De Niros Erzähler durchaus in schwärmenden Beschreibungen verliert. Gemeinsam mit seiner Stammeditorin Thelma Schoonmaker entwickelt Martin Scorsese einen neuen Rhythmus, der deutlich langsamer, aber in den entscheidenden Momenten nicht weniger mitreißend ist.

Gerade in seinen letzten Atemzügen, die nicht selten an die erschlagende Stille des meisterhaften Silence erinnern, schöpft The Irishman eine unglaubliche Kraft aus der Ruhe seiner Bilder. Die glühende Stimmung der Nachtclubs ist längst vergessen. Stattdessen findet sich Martin Scorsese in den einsamen Räumen eines Altenheims wieder, tief in Gedanken versunken. Am Ende dieser dreieinhalbstündigen Gangster-Odyssee, die mehr einem Requiem gleicht, ist Frank Sheeran allein und blickt der bittersten Konsequenz entgegen. Martin Scorsese lässt die Tür zum Kino dennoch einen Spalt breit offen – ein ergreifendes Schlussbild, das noch lange nachhallt, selbst dann, wenn die Lichter erloschen sind.

The Irishman © Netflix