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Cherry – Kritik

Mit Cherry präsentieren Joe und Anthony Russo ihren ersten Film seit dem gigantischen Marvel-Doppelschlag Avengers: Infinity War und Avengers: Endgame. Zahlreiche Superheld*innen versammelten sie zuletzt auf der großen Leinwand. Ihr neustes Werk erscheint nun beim Streaming-Dienst Apple TV+ und könnte auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher sein: In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nico Walker besitzen die Menschen keine Superkräfte, sondern vor allem eines: Fehler.

Fehler, die sie sich nicht eingestehen wollen und daher zur Methode machen. Immer tiefer entführt Cherry in eine Abwärtsspirale, obwohl zu Beginn alles möglich scheint. Gleichzeitig lungert ein düsterer Schatten über den Film. Nicht einmal die alles überblickenden Aufnahmen aus der Vogelperspektive vermögen darüber hinwegzutäuschen, dass der von Tom Holland verkörperte Cherry nach und nach die Kontrolle verliert. Stufenweise nehmen uns die Russo-Brüder auf diese Reise mit.

Als Erzähler fungiert Holland selbst: Aus dem Off teilt er die Geschichte seines Protagonisten, als würde Cherry direkt auf den Spuren der großen Martin Scorsese-Epen wandeln. Doch hier kommt schon die größte Schwäche des Films zum Vorschein: Die Russos imitieren ihre Vorbilder, ohne dem Gezeigten eigene Gedanken hinzuzufügen. Es geht nur darum, Posen zu imitieren – und davon so viele wie möglich. Binnen kürzester Zeit verwandelt sich Cherry in einen zähes Best-of unsäglicher Tropen.

Der Drill-Sargent, der sich die Seele aus dem Leib brüllt, dürfte mit Abstand die peinlichste und überflüssigste dieser Tropen sein. Komplett verloren steht sie in dem Film und wird weder kommentiert noch geschickt untergraben. Cherry fehlt jegliche Vorstellungskraft und Kreativität, um im ereignisreichen Treiben des Films mehr als eine Aneinanderreihung ausdrucksloser Szenen zu finden, was den Film von einer Minute zur anderen ermüdender werden lässt. Nicht zuträglich ist, dass Cherry ganze 140 davon als Laufzeit beansprucht.

Holland gibt sich zwar Mühe, die Wandlung bzw. den Niedergang seiner Figur greifbar zu machen. Drehbuch und Inszenierung lassen ihn jedoch in unsäglichen Momenten auflaufen, die erschrecken wollen, insgeheim aber auf der Suche nach einer coolen, heroischen Geschichte sind. Cherry scheitert maßlos darin, sich seiner aufwühlenden Themen abseits von abgenutzten Genre-Mustern anzunähern. Jede Wahrheit, die der Film zu finden glaubt, entpuppt sich als ein weiteres abgenutztes Bild.

Vermeintlicher Stilwillen soll kaschieren, wie hilflos Cherry von einem Kriegsfilm ins Drogendrama stolpert und von Banküberfällen, Beziehungsproblemen und posttraumatischen Belastungsstörungen erzählt. Es existiert allerdings keinerlei Gespür für die Filmsprache. Alles ist wirr, überladen und aufgesetzt. Haben sich die Russos bei den Avengers-Filmen noch als logistische Kraft hervorgetan, mangelt es Cherry selbst an einer grundlegenden Dynamik, um die Sogkraft zu ermöglichen, die das Voice-over so verzweifelt heraufzubeschwören versucht.

Die erste Regiearbeit der Russos nach dem großen Marvel-Gig erweist sich als maßlose Enttäuschung. Dabei haben die Brüder als Produzenten in den vergangenen Jahren regelmäßig bewiesen, dass sie ein großes Interesse daran haben, dem Mid-Budget-Kino eine Zukunft zu ermöglichen. Cherry fühlt sich so an, als wollten sie die komplette letzte Dekade, die sie mit Iron Man, Captain America und Co. verbracht haben, mit einem einzigen Film nachholen. Am Ende haben sie aber nur einen schwachen Link zu deutlich besseren Werken geschaffen.

Beitragsbild: Cherry © Apple TV+