Captain Marvel beginnt mit aufgewirbelter Erde. In Zeitlupe fliegt sie durch das Bild und lässt die epische Geschichte hinter der kraftvollen Bewegung erahnen. Es herrscht eine Aufbruchsstimmung, aber ebenso das Gefühl einer Niederlage, die sich in den nachfolgenden Einstellungen bestätigt und Neugier schafft. Nach über zehn Jahren und 20 Filmen erwartet uns mit Captain Marvel der erste Solofilm im Marvel Cinematic Universe mit einer Superheldin in der alleinigen Hauptrolle.
Wo Konkurrent DC bereits vor zwei Jahren die im Rahmen von Batman v Superman: Dawn of Justice eingeführte Wonder Woman in ihr eigenes Abenteuer schickte und damit einen strahlenden Moment der Popkultur erschuf, sehnt sich auch MCU-Showrunner Kevin Feige nach einem solchen Triumph, zumal er einen solchen ziemlich genau vor einem Jahr mit überaus eindrucksvoll Black Panther orchestrierte. Tatsächlich teilen sich Brie Larsons MCU-Debüt und die Reise nach Wakanda viele Eigenschaften, starten sie nicht zuletzt vor einem Avengers-Film in den Kinos.
Auf den ersten Blick gleicht diese Positionierung im MCU dem Luftholen vor der nächsten großen Herausforderung. Dieser vermeintlichen Ruhe vor dem Sturm entgegnete Black Panther jedoch mit einer für MCU-Verhältnisse ungewohnt klaren, eigenen Identität. Ryan Cooglers Film hat trotz einiger Schwächen, die inzwischen synonym mit dem Franchise gehen, definitiv bleibende Akzente gesetzt, wie es seit James Gunns erstem Guardians of the Galaxy-Film im MCU nicht mehr der Fall war. Die gleiche Durchschlagkraft besitzt Captain Marvel allerdings nicht.
Das Aufwirbeln gelingt dem Film dennoch, denn mit Brie Larson hat er eine perfekte Hauptdarstellerin gefunden, die sich mühelos durch den Marvel-Kosmos bewegt und erst einmal von nichts beeindrucken lässt. Dieser Trotz sorgt für frischen Wind und vereint sich schließlich mit ihrer Figur, die verloren zwischen zwei Welten schwankt. Erinnerungsfetzen künden von einem Leben auf der Erde, während wir Carol Danvers auf dem Kree-Planeten Hala als unerschrockene Kämpferin Vers kennenlernen.
Ausgebildet von Yon-Rogg (Jude Law) kämpft sie als Teil der Starforce gegen die bösen Skrulls, die vor alle deswegen so bedrohlich sind, weil sie jegliche Form annehmen können. Ein faszinierender Kontrast zur Protagonistin, die sich auf der Suche nach ihrer eigenen Identität befindet, während die Persönlichkeiten um sie herum verschwimmen und niemandem getraut werden kann. Auch auf der Erde bestehen Zweifel, denn schon in den 1990er Jahren war die S.H.I.E.L.D.-Organisation eine, die im Verborgenen operierte und sich in Geheimniskrämerei hüllte.
Da findet sich selbst der junge Nick Fury (Samuel L. Jackson) plötzlich im Kreuzfeuer seiner Kollegen wieder und hechtet durch dunkle Gänge, bis er über eine Katze namens Goose stolpert, die im Verlauf des Films gleich mehrmals zum Scene-Stealer avanciert. Vorerst muss Captain Marvel aber die chaotische Zusammenführung von neuen und bekannten MCU-Figuren überwinden, ehe die Geschichte ihr wahres Potential entfalten kann. Abgelenkt von meist unglücklichen 1990er-Jahre-Referenzen schafft es Brie Larson trotzdem, sich durch alle Gestaltwandler zum Herz des Films vorzukämpfen.
So eindrucksvoll sich dieser Kampf in der Theorie anhört, so enttäuschend ist die Inszenierung. Anna Boden und Ryan Fleck, die auch gemeinsam mit Geneva Robertson-Dworet das Drehbuch schrieben, bringen wenige Ideen mit, um die MCU-Grenzen auszutesten, geschweige denn aus diesen auszubrechen. Sobald der Film in die unendlichen Weiten des Weltraums vordringt, wirkt er zwar deutlich lebendiger als in sämtlichen Passagen, die im Staub Kaliforniens spielen. Wäre da aber nicht das von Brie Larson überzeugend angeführte Ensemble – die Bilder wären erschreckend leer, doch das ist nichts Neues.
Die Helden sind im MCU das Wichtigste, ihnen müssen sich alle anderen Facetten der Filme unterordnen, wenn nicht gerade Kenneth Branagh zur Stelle ist, um Donnergott Thor in shakespearesche Dimensionen zu schicken. Brie Larson verdient die größte Bühne der Welt (und erhält diese mit Captain Marvel auch), gleichzeitig setzt sich das Fundament des Films aus sehr vielen losen Elementen zusammen. Zu selten erforscht das Drehbuch die spannenden Impulse, die sich in der Origin-Story verbergen. Zu oft geht es nur darum, Zusammenhänge zu erklären und obligatorische Stationen abzuarbeiten.
Wie mitreißend Captain Marvel sein kann, beweist der Film, wenn er dann doch in die Kraft bewegter Bilder investiert und ganz nah bei Carol Danvers ist, die ihre größte Stärke nicht aus irgendwelchen Superkräften schöpft, sondern aus ihrer Menschlichkeit. Ihre Identität findet sie, wenn sie sich fallen lässt, denn im Moment des Aufstehens entwaffnet sie mit ihrer Verletzlichkeit selbst die trügerischsten Gegner. Dass sich diese mitunter als die tragischsten Figuren des Films offenbaren, zeugt trotz der strukturellen Probleme für die durchdachten Motive des Drehbuchs.
Erneut wandeln sich die Identitäten, während Captain Marvel in einer manipulierten Erinnerung sehnsuchtsvoll in den Himmel blickt. Später soll sie diesen erobern – schneller, höher und weiter, als es die Vorbilder in The Right Stuff je geschafft haben. No Doubt ertönt im Hintergrund, wenn sich Captain Marvel gefunden hat und befeuert von Gwen Stefanis Stimme in einem unaufhaltsamen Siegeszug den Weltraum erobert. Ein Siegeszug, der sich ein bisschen so anfühlt, als hätte jemand endlich alle Level freigeschaltet, um unaufhaltsam durch ein Videospiel zu rennen. Irgendetwas fehlt trotzdem.
Der Freiheitsschlag durchbricht die MCU-Schranken nicht. Manchmal begeistern sie dennoch, die ungehaltenen Bewegungen durch sämtliche Widerstände. Jetzt wirbelt Captain Marvel in Hochgeschwindigkeit das Universum auf, nachdem wir zu Beginn nur unzählige Erdbrocken in Zeitlupe durch die Gegend fliegen sahen. Die Energie durchströmt ihren Körper und macht sie geradezu unbesiegbar. Ein packender Augenblick der Ermächtigung, der durchaus ansteckend ist. Nur nachhallen darf er nicht, denn der Schatten von Avengers: Endgame ist größer als alles, was es je im MCU gegeben hat.
Captain Marvel © Walt Disney Studios Motion Pictures
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