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Under the Silver Lake – Kritik

Irgendwo tief unter dem Silver Lake liegt etwas verborgen, ein düsteres Geheimnis, eine verbotene Wahrheit. David Robert Mitchell lässt daran in seinem dritten Kinofilm keine Zweifel aufkommen. Under the Silver Lake entführt in ein sonniges Los Angeles, in dem die Schatten größer sind, als sie auf den ersten Blick wirken. Schwerelos geleitet die Kamera mit dem von Andrew Garfield verkörperten Slacker Sam durch die Straßen, als würde er sich im Labyrinth einer warmen Sommernacht verlieren. Seit Toni Servillo in La Grande Bellezza ist niemand mehr dermaßen lässig durch eine Stadt voller verborgener Winkel geschlendert und hat sich von den endlosen Möglichkeiten verführen lassen. So hingebungsvoll der Film seinen Schauplatz umarmt, kann er nicht ignorieren, dass unter der Oberfläche etwas Bedrohliches brodelt, das nur darauf wartet, auszubrechen und das melancholische Idyll zu vernichten. Immer wieder schwillt die Musik an, kündet von unendlicher Sehnsucht und geleitet Sam um die nächste Kreuzung. Dort trifft er auf Sarah (Riley Keough), eine zufällige Begenung, auf die er sein gesamtes Leben lang gewartet hat. Ehe sich Sam jedoch versieht, ist sie verschwunden.

Die Suche nach dem Engel, der die Stadt der Engel verlassen hat, avanciert zum roten Faden dieser unberechenbaren Los Angeles-Odyssee, die sich aus vielen kleinen Episoden zusammensetzt, alle verbunden durch Sam, der durch die Gegend irrt. Scheint der rote Faden anfangs noch eine klare Richtung vorzugeben, entfaltet sich Under the Silver Lake zunehmend in ein gigantisches Epos, das jegliches Gefühl für die vergehende Zeit vergessen lässt. Nachdem David Robert Mitchell mit It Follows Erinnerungen des Horrorkinos mit beängstigender Präzision in einem nervenaufreibenden Wettlauf gegen den Tod auf die Leinwand bannte, erweist sich sein Nachfolgewerk als ausufernde Angelegenheit, die keine Grenzen mehr kennt und sich schlicht von ihren Fantasien treiben lässt. Beflügelt werden diese Fantasien vom Kino selbst, insbesondere dem Film noir, der hier – ähnlich wie in Rian Johnsons meisterhaftem Debüt Brick – zu neuem Leben erwacht. David Robert Mitchell gelingt es hierbei sagenhaft, im Digitalen den rauen Look des Vergangenen einzufangen, während die Musik von Richard Vreeland aka Disasterpeace die schwelgende Größe von Chinatown und Sunset Boulevard heraufbeschwört.

David Robert Mitchell bewegt sich genauso neugierig wie sicher in der Filmgeschichte. Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht? Under the Silver Lake verbeugt sich vor dem Meister und zitiert seine Techniken. Gleichzeitig entpuppt sich der Grabstein des legendären Regisseurs, der mit seinem Schaffen das Kino für immer verändert hat, für eine Gruppe junger Menschen bloß als eine Sitzgelegenheit von vielen. Die Geister und Mythen Hollywoods sind in jeder Faser dieses Films zu spüren und schleichen sich, begleitet von einer unersättlichen Faszination für Popkultur, in die erstaunlichsten Sequenzen dieser Geschichte. Sam lebt in einer Welt voller Ikonen und Vorbilder, je tiefer er jedoch in das eingangs erwähnte Labyrinth der warmen Sommernacht eindringt, desto mehr werden diese Ikonen und Vorbilder entlarvt. Under the Silver Lake entmystifiziert die Poster und Bilder in Sams Apartment, das er in fünf Tagen verlassen muss, sollte er nicht endlich die Miete auftreiben. Fünf Tage, die einem Countdown gleichen, bis sich Sam von jungen Erwachsenen, der im Schlund der Stadt verlorengeht, in eine unheimliche, zerstörerische Kraft verwandelt hat.

Zuerst sind es Kinder, die ihn provozieren und eine tief in seinem Inneren schlummernde, ungeahnte Macht entfesseln. Später ist es ein alter Mann an einem Klavier, der im Zuge der atemberaubendsten Szenen des Films Sams gesamtes Leben demontiert und im Anschluss eine schicksalhafte Reaktion aus Enttäuschung, Fassungslosigkeit und Überforderung erntet. Andrew Garfield schlängelt sich begeisternd durch David Robert Mitchells Drehbuch, mal mit verträumten Blick, mal mit erschrockenem Gesichtsausdruck. Sein Sam erschrickt zuerst vor der Welt und dann vor sich selbst. Zwar stolpert er ähnlich hilflos wie Joaquin Phoenix in Paul Thomas Andersons Inherent Vice durch einen Plot, der nach und nach hinter einer dichten Nebelwand verschwindet. Am Ende muss Sam aber feststellen, dass er von seinem eigenen Abenteuer verschlungen wurde und Entscheidungen getroffen hat, die er nicht mehr rückgängig machen kann. Beobachtet er zu Beginn des Films noch die merkwürdigen Figuren, die sich ihren Weg durch das in der Hitze flimmernde Los Angeles bahnen, ist er am Ende selbst zum geteilten Held und Gegenspieler seiner eigenen merkwürdigen Geschichte geworden. Es ist ein bisschen, als hätte sich Alice im Wunderland verirrt.

Und dann sind da die seltsamen Begegnung, die Sam provoziert. Mit spielender Leichtigkeit steigt er in jede verschlossene Wohnung ein und findet sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf der exklusivsten Party wieder. Under the Silver Lake folgt ihm bedingungslos an die faszinierenden Orte, die sich mit der Zeit zu einem großen Los Angeles-Porträt zusammenfügen, wenngleich die Stadt stets aus fragmentarischer Perspektive beobachtet wird. Dennoch gelingt es David Robert Mitchell mit Bravour, ein Gefühl für das urbane Monstrum zu entwickeln, in dem die Träume der Menschen zur Wirklichkeit werden, weil sie nichts anderes tun, als sich ihren Vorstellungen hinzugeben. Der Preis dafür wird vergraben, an jenem ungewissen Ort unter dem Silver Lake, der mitten in der Nacht wie ein friedlicher Ruhepol im Mondlicht schimmert. Noch ist hier alles ruhig. Im Morgengrauen wird sich das Wasser jedoch verfärbt haben, vom Blut, das sich in einem tragischen Moment mit der all Fantasie dieser LA-Odyssee vermischt hat. Was bleibt, ist ein rätselhafter, ein poetischer Film, der schließlich wieder an seinem Anfang zurückkehrt, ohne jemals dort gewesen zu sein.

Under the Silver Lake © Weltkino Filmverleih